Der Wilde Westen wird seit seiner Entdeckung verklärt, verkitscht und vermarktet. Aber er bleibt bis heute ein Sehnsuchtsort der Phantastik. Er weckte schon immer die Ehrfurcht im Angesicht einer Natur und Weite, in der alles möglich und denkbar schien - darunter das menschlich Abgründige und grotesk Unheimliche.
Die Verbindung von Western und Horror wurde selbst im eher authentisch designten Red Dead Redemption 2 (2018) in einsamen Waldhütten spürbar - mehr zu den folkloristischen Bezügen im Podcast mit Daniel illger und dieser Erkundung. Und sie wurde im Action-Rollenspiel Weird West (2022) zwischen Banditen, Kannibalen und Ghulen so zelebriert, dass es sich wie ein okkultes Baldur's Gate auf Speed anfühlte - mehr dazu in der Rezension.
Auch in Romanen wie The Hunger: Die letzte Reise (2018), Die Straße der Toten (2013) oder Skull Moon (2016) wurde das Alptraumhafte von historisch subtil bis bizarr monströs dargestellt. Und im Brettspiel Shadows of Brimstone (2014) inszenierte man das Szenario des Weird West bis zum Tentakelmonster samt Cthulhu-Flair à la HeroQuest.
Nach den Abenteuern der Kopfgeldjägerin Claire deWitt (2016) möchte ich diesen Empfehlungen einen weiteren Comic hinzufügen, und zwar Canary. Er ist dieses Jahr auf Deutsch bei Splitter erschienen und erzählt auf 160 Seiten eine Geschichte aus dem Leben von Marshal Azrael Holt. Er ist trotz seines mittleren Alters bereits eine populäre Figur in Groschenromanen, als er 1891 einen Auftrag annimmt, der ihn in ein entlegenes Kaff nach Utah führt.
Dort trifft er auf eine von einem Schüler erschossene Lehrerin, seltsame Eier und das Misstrauen der Bevölkerung. Was wie ein blutiger Krimi mit Serienmorden beginnt, entwickelt mit den Gerüchten um eine alte Mine angenehmes Mystery-Flair, zumal es mit historischen Fakten rund um frühe Uranförderung verwoben wird, die seit 1872 in Colorado bezeugt ist.
Die Atmosphäre wird von Bildern mit starken Kontrasten getragen, in denen die Charaktere und vor allem die Wüstenlandschaft vor blutroten und goldgelben Horizonten sichtbar wird. Es hat jedenfalls richtig Spaß gemacht, in diese Bildwelten zu reisen, die abseits der expliziten Gewalt einiges an Schönheit zu bieten haben.
Ich hab mir die englische Version von Dark Horse mit den gleißenden Colts im Cover gekauft, die Teil 1 bis 3 beinhaltet. Ausschlaggebender als dieses coole Motiv war natürlich das kreative Duo aus Scott Snyder (American Vampire, Swamp Thing, Batman) und Dan Panosian (X-Men, Witchblade, Arkham Knight), der übrigens auch Lead Designer für die Shooterserie Duke Nukem (1991 - 2011) war.
Die beiden passen als Autor und Zeichner wunderbar zusammen, ich mag den ruhigen Erzählstil und die ausdrucksstarken Gesichter, die Dialoge und die Farbgebung.
Zwar trägt Marshal Holt eine Gesichtsmaske, und alle tuscheln, wenn sie ihn sehen, aber er ist kein klassischer Superheld und wird als Charakter eher von seiner Vergangenheit als übernatürlichen oder magischen Fähigkeiten geprägt. Ich fand ihn sehr sympathisch und so interessant, dass ich mir sofort ein Videospiel vorstellen könnte - vielleicht ist das auch nur der Phantomschmerz nach Arthur Morgan, den ich tatsächlich vermisse.
Der Wilde Westen hat ja im Comicbereich eine lange Tradition, nicht nur in Amerika seit den 20er Jahren, sondern auch in Europa - aus dem Frankreich der 60er Jahre stammt z.B. Leutnant Blueberry. Der Horror zeigte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Facetten, angeregt durch Reihen wie Tales from the Crypt. Aber beides traf höchstens in kurzen Geschichten zusammen, bevor sich ein Subgenre entwickelte.
Canary könnte jedenfalls für alle interessant sind, die Antihelden wie John Constantine mögen, der ja seit 1988 mit Hellblazer bei DC Comics berühmt wurde.
Es ist 2023 auf Englisch bei Dark Horse und am 29. Juni 2024 komplett auf Deutsch beim Splitter-Verlag für 25 Euro erschienen.
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