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AutorenbildJörg Luibl

Game Studies: Suche und Angst in Silent Hill 2

Was denken Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Ich habe diese Reihe mit Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur von Daniel Illger begonnen. Es gibt dazu unter Berichte eine eigene Kategorie, in der alle Erkundungen und Podcasts über Game Studies einsortiert werden.


Diesmal geht es um Silent Hill 2, das kürzlich als Remake für PC und PS5 erschienen ist. Ich befinde mich gerade mit James Sunderland auf der Reise, die natürlich auch eine in die Vergangenheit ist, denn ich habe das Abenteuer schon 2001 erlebt - es fühlt sich beim Spielen fast so an, als würde man sich und James über die Schulter sehen.


Mit den Merkmalen dieses Meilensteins des psychologischen Horrors beschäftigte sich Andreas Wolfsteiner 2010 in seinem Aufsatz Einige Bemerkungen zu Suche und Angst im digitalen Problemraum Silent Hill 2.


Dabei geht es um zwei Fragen: Was hat die Suche des Spielers sowie des Helden mit der Entstehung von Angst zu tun? Und inwiefern hängen die Räume des Spiels mit dem Unheimlichen zusammen? Wolfsteiner zieht historische sowie philosophische Parallelen bis hin zu Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche.


"Die Erinnerung und die Wiederholung spielen auch im Werk Sören Kierkegaards eine außerordentliche Rolle, ebenso wie die Suche und die Angst.(...)


Mit der Suche ist dabei mehr gemeint als jene nach James' Frau Mary oder nach Lösungen für Rätsel:


"Die Suche selbst ist, wie schon das Wortfeld des Suchens nahe legt, kein eindeutig bestimmbarer Vorgang. Man sucht vom Banalen zum Metaphysischen, vom Figurativen zum Abstrakten, in der Zeit und im Raum, nach etwas, jemandem, nach Sinn, Wahrhaftigkeit, etc. In der Zusammenschau kann aber doch allem Suchen ein gemeinsames Symptom nachgewiesen werden: Suchen produziert stets Wissen."


Dabei beschreibt er die für Silent Hill 2 spezielle Verbindung von Angstlust und Spieltrieb:


"In Silent Hill 2 verschränkt sich auf ganz besondere Art und Weise die Lust an

der Angst mit den strategischen Aufgaben, die klassische Elemente des Adventures darstellen. Auffällig ist, dass das Spiel jenseits der strategischen Anforderungen an den Spieler mit einer Neuerung im Design von zeitgenössischen Computerspielen operiert: Der Produktion von Präsenz und der Produktion von unterschiedlichen Atmosphären. Durch die enge Verschaltung von Spiel und Spieler auf der Ebene der Wahrnehmung wird das Spiel zu einem ganz besonderen Zeichengenerator."

Schließlich sei Silent Hill 2 ein gutes Beispiel dafür, wie das Spiel letztlich im Kopf des Spielenden stattfindet:


"Es wird erst zu einem je spezifischen Repräsentationsraum durch den individuellen strategischen Stil des Spielersubjekts unter bestimmten Aspekten der Angst und des Unheimlichen. Vom Stil hängt das jeweilige Spielende und die gesamte Narration ab, die sich über die imaginierte Narrationslinie des Spielersubjekts in dessen Körper territorialisiert. Bei Silent Hill 2 heißt Immersion nicht »Der Spieler ist im Spiel«,

sondern »das Spiel ist im Spieler«" Und zwar auf eine spezielle Art, zumal sich das Genre des Survival-Horrors mit seinen Tabubrüchen aus der gesellschaftlichen Kontrolle befreit:


Es werden hier Bilder der Grausamkeit und psychischen Leidens bespielbar, die Metaphern des Soziopathologischen darstellen: Räume des Krieges, des Mordes, des Grauens, etc. Die

Importierbarkeit so ziemlich aller pathologisierten und kriminalisierten Räume in den eigenen Wohnraum und durch die Eröffnung dieser Räume als Spiel-Räume, ist die mit der Balintschen (1999) Angstlust verbundene Aggression und Gewaltbereitschaft des Menschen simulierbar geworden. So materialisieren sich im Computerspiel Simulakren der Gewalt. Die damit verbundene Differenzierung des Menschseins vom Tiersein und des Menschseins vom Maschine-Werden macht transparent, dass Aggression, Brutalität und die Lust an der

Grausamkeit einen eigenen Raum brauchen. Computerspiele des ›Survival Horror Genres‹ stellen in diesem Zusammenhang einen legalen Freiraum jenseits der Überwachung durch die Kontrollorgane der strukturellen Gewalt dar."


Zur Rolle des Monsters in der Gesellschaft heißt es:


"Historisch betrachtet ist das Monster etwas, das der Mensch hervorbringt, das der Mensch

zeugt und gebiert. Das Monströse der deformierten Geschöpfe zwingt den

Menschen dazu diese Monster als das Andere, von ihm verschiedene, zu klassifizieren."


Interessant ist sein Verweis auf ein Zitat von Nietzsche, das der Philosoph damals eigentlich auf den "Gelehrten" bezog, dessen Charakter er als "unreines Metall" beschrieb und vehement kritisierte. Wolfsteiner erstellt allerdings einen Zusammenhang von Suchen und Angst sowie Lust und Grausamkeit des Spielers, der einige Erkenntnisse späterer Kulturwissenschatler vorwegnehmen soll:


»Man nehme zuvörderst eine starke und immer höher gesteigerte Neubegier, die Sucht nach

Abenteuern der Erkenntnis, die fortwährend anreizende Gewalt des Neuen und Seltnen [...]

Dazu füge man einen gewissen dialektischen Spür- und Spieltrieb, die jägerische Lust an ver-

schmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so dass nicht eigentlich die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird und der Hauptgenuß im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmäßigen Abtöten besteht. Nun tritt noch der Trieb zum Widerspruch hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen entgegen, sich fühlen und fühlen lassen; der Kampf wird zur Lust und der persönliche Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit nur der Vorwand ist« (Nietzsche, Unzeitgemäßen Betrachtungen 3)


Daraus folgert Wolfsteiner: "Die Essenz des ›Suchens, das gesucht wird‹ sowie die Feststellung, dass der

Hauptgenuss desselben im ›listigen Herumschleichen, Umzingeln und kunst-

mäßigen Abtöten bestehe‹, erklärt, warum Spiele wie Silent Hill 2 überhaupt

mit multiple endings funktionieren können. Nietzsche zeigt auf, dass ein-eindeutige Lösungen gar nicht oder zumindest nicht unbedingt zum Lustrepertoire des Suchenden, in unserem Fall des Spielers, gerechnet werden können."

Andreas Wolfsteiner ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Hochschule Osnabrück. Sein Aufsatz Einige Bemerkungen zu Suche und Angst im digitalen Problemraum Silent Hill 2 erschien 2010 in: Britta Neitzel, Matthias Bopp, Rolf F. Nohr (Hg.): »See? I’m real...« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von SILENT HILL. Münster: LIT 2010 (Medien'welten. Braunschweiger Schriften zur Medienkultur), S. 157–176.


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