top of page
AutorenbildJörg Luibl

Rezension, Teil 1: Baldur's Gate 3 (PS5)

Einige werden Baldur's Gate 3 schon durchgespielt haben. Wenn ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich noch im Hinterland der Schwertküste, halb verirrt in einem bösartigen Tempel. Dieser Beginn der Rezension beruht auf den Erfahrungen, die ich im ersten Akt auf der PlayStation 5 sammeln konnte. Ich warne schonmal vor, dass es zunächst einen Prolog gibt, dass es danach etwas ausführlicher wird und erzählerische Hintergründe beleuchtet werden, in denen Orte, Handlungen und Antagonisten genannt werden. Ich werde nichts Wesentliches verraten, aber dieser Bericht eignet sich nicht als Appetitanreger oder für Spieler, die ohne Vorwissen ihre Rucksäcke packen wollen.




Altes Spiel, neue Euphorie


Ich habe mich gegen die poetischere Tagebuchversion entschieden, weil diese Anekdoten zu viele Questdetails vorweggenommen hätten. Dieser erste Teil wird vermutlich der längste, aber ich werde noch nicht alle Facetten der Spielmechanik beleuchten. Das Kampfsystem und die Rätsel spare ich bewusst für den zweiten Teil auf. Es hat sich doch einiges an negativen Punkten summiert, aber letztlich geht es in einer Spielbetrachtung nie um Perfektion, sondern immer um Kompensation. Gerade auf einer derart langen Reise ist das ein ständiges Abwiegen. Und manchmal kann eine tolle Situation für zwei, drei Kontras entschädigen. Die Fragen zur Entwicklung der Geschichte sowie der Spielwelt, der inneren Beziehungen und äußeren Konflikte werde ich schon anreißen, aber da führen die Fäden erst im dritten Akt zusammen. Warum rede ich hier eigentlich so um den heißen Brei herum?


Nicht nur, weil er aktuell auf Metacritic bei erstaunlichen 96 Grad köchelt, also einer Wertungstemperatur, die man sonst von GTA, Zelda oder Elden Ring kennt. Falls diese Euphorie berechtigt ist, was laut Hörensagen recht wahrscheinlich ist, erlebt man in diesem Spätsommer nicht weniger als eine spektakuläre Rückkehr. Und zwar die eines in Nostalgie ergrauten Urzeitkönigs namens Computer-Rollenspiel (CRPG). Nicht etwa auf schwarmfinanzierten Geheimwegen, nicht in der Nische gefeiert, sondern auf einem regelrechten Triumphzug auf XXL-Niveau: Mit 170 Stunden Filmsequenzen und zwei Millionen Wörtern im Rücken, die mehr erzählen als Der Herr der Ringe, Der Hobbit und Das Silmarillion zusammen. Wer sich durch diesen isometrischen Wälzer kämpft, soll eines von 17.000 (!) möglichen Enden erleben. Natürlich wabert da viel statistischer Nebel, denn nahezu alles verändert die Parameter für das Finale, beginnend mit der Charakterwahl. Trotzdem ist das schlichtweg beeindruckend.


Höhepunkt einer Genre-Geschichte?


Aber wie viel Klasse steckt in dieser Masse? Und wie erlebt man diese Rückkehr, wenn man dieses Genre fast seit der Kindheit begleitet? Dass ich keine schlanke Rezension aus der Hüfte schieße liegt auch daran, dass mich dieses vermeintliche Meisterwerk mitten in der Recherche für eben jene Geschichte der Rollenspiele erwischt. Wenn man so möchte, werde ich gerade vom Rad der Zeit und Baldur's Gate 3 (BG3) zermalmt. Als ich gestern aus einem Dungeon zum Schreibtisch floh, nachdem meine Vierergruppe zwischen Todeswolken und Blitzen aufgerieben wurde, wollte mir in der Pause keine Zeile an Text gelingen. Ich grübelte einfach zu sehr über der Frage, ob ich statt des Magiers besser den Druiden oder gleich beide plus Hexenmeister einsetzen soll. Außerdem spukten mir ein Nachtlied und sprechende Ratten durch den Kopf.



So manches Geheimnis trägt man länger mit sich herum...

Wenn ein Spiel so nachhallt, ist das in der Regel ein sehr gutes Zeichen. Und natürlich werde ich niemanden mit meinen Erkenntnissen überraschen. Letztlich ist das Urteil längst so positiv ausgefallen, dass niemand eine Art von Kaufberatung braucht. Hier geht es also nicht um Hit oder Flop, sondern um die Frage, wie stark dieses Baldur's Gate 3 auf mich wirkt, ob es auch aus meiner Sicht den vorläufigen Höhepunkt einer langen Genre-Geschichte darstellt. Dass ich erst relativ spät etwas beitragen kann, liegt in erster Linie an der einen Monat späteren Konsolenversion. Denn Anfang August, als (BG3) für den PC erschien, fehlte mir aufgrund der Ferien schlicht die Zeit zum Spielen. Aber mir gefällt das, denn so kann ich das Abenteuer von der Couch aus erleben und hab eine einigermaßen plausible Ausrede für dieses weitschweifige Palaver.


Aber wer weiß, vielleicht kann das ja auch ein Vorteil für spielkulturell Interessierte sein, denn aufgrund der parallelen Recherche bilde ich mir ein, einige Verbindungen ziehen zu können, die mir in all den Jahren zuvor gar nicht bewusst waren. In diesem Rollenspiel treffen sich ja zwei Traditionslinien, die dieses wunderbare Genre über 50 Jahre geprägt haben. Das wird also alles andere als eine knackige Kritik, sondern eine Mischung aus Vertiefung und Analyse. Mal weit herausgezoomt aus der Sicht des vergleichenden Spielehistorikers, mal mit Abstechern zu anderen Rollenspielen, mal nah dran wie ein schnüffelnder Spieletester auf Bugsuche, dem man seit 20 Jahren nichts recht machen kann. Ich hoffe, dass ich diese Blickwinkel einigermaßen harmonisch aufeinander abstimmen kann. Und dass niemand vorzeitig einschläft.


Tja, dann fange ich mal in weit entfernten Zeiten an...


Spielhistorische Wurzeln


Als Dungeons & Dragons (D&D) 1974 für zehn Dollar erschien, gab es noch gar keine Rollenspiele. Auf der Verpackung war nicht von "Role Playing" die Rede, sondern von "Rule for Fantastic Medieval Wargames Campaigns Playable with Paper and Pencil and Miniature Figures". Damals waren eben taktische Kriegsspiele am Tisch en vogue. Selbst die Erfinder Gary Gygax und Dave Arneson ahnten nicht, dass soeben das einflussreichste Genre der Spielegeschichte geboren war. Sie wussten natürlich, wohin sie Spieler mit Stift und Papier entführen wollten, nämlich weg von historischen Schlachtfeldern wie Gettysburg, hin zu magischen Reichen à la Mittelerde. Danach klangen auch die Überschriften der drei Regelhefte: Men & Magic, Monsters & Treasure und The Underworld & Wilderness Adventures.


Heute hat jeder bei diesen Begriffen digitale Spiele vor Augen. Und wenn man bedenkt, wie viel man ein halbes Jahrhundert später in diesem BG3 kämpft, wie sehr es letztlich um Taktik im Gelände sowie Waffen geht, um Distanzen und Bereichsschaden, ist die alte Wurzel der Wargames immer noch stark. Aber das ist die eine analoge Traditionslinie von D&D. Eine weitere digitale kommt hinzu, die das Wesen dieser Spielart fast über Nacht revolutionieren sollte. Denn Mitte der 70er war nicht abzusehen, dass sich diese exotischen Fantasy-Abenteuer so unglaublich schnell in Bits und Bytes verwandeln würden, und zwar nahezu parallel zum Siegeszug der Heimcomputer. Dort prägten sie in der fast schon janusköpfigen Gestalt von Wizardry und Ultima, die zwei ganz unterschiedliche Spielerfahrungen lieferten, das so genannte Computer-Rollenspiel (CRPG). Wenn ich mit jüngeren Zockern spreche, übersetzen sie CRPG manchmal mit "Classic Role Playing Game". Das ist zwar sprachhistorisch nicht korrekt, aber hinsichtlich der Bedeutung gar nicht so falsch, denn letztlich stehen sie für eine Art klassische Spiel-Tradition.


Die große Leistung von BioWare


Viele tolle Abenteuer sind aus dieser Wurzel entstanden, es gab interessante Verzweigungen, und ein sehr später Abkömmling hieß Baldur's Gate (BG). Das fegte 1998 in seiner isometrischen Perspektive mal eben etablierte Kulissen hinweg und wurde in seiner freien Herangehensweise stark von Brian Fargos Wasteland (1988) beeinflusst. Aber keine Bange, das Fass der 80er mache ich nicht weiter auf. Wer sich dafür interessiert, findet in den ersten beiden Folgen des Podcasts DoubleXP mit Jochen Gebauer viele Hintergründe.


Dass ich für diese Rezension trotzdem so weit aushole, liegt einfach an meiner engen Beziehung zu diesem Abenteuer von BioWare. Es hat einiges vom analogen Pen&Paper-Gefühl auf den Bildschirm übertragen, just in dem Moment, als die Faszination dort nachließ und man in ewigen Kämpfen der Goldbox-Abenteuer zu erstarren drohte. Und sein Erfolg hat den Grundstein für eines der besten Rollenspiele aller Zeiten gelegt: Baldur's Gate 2: Shadows of Amn (BG2). Denn dort blitzte neben der epischen Story die Anziehungskraft der Party-Interaktion auf, die sich später in Star Wars: Knights of the Old Republic (2003), Mass Effect (2007) und vor allem Dragon Age: Origins (2009) so richtig entfalten sollte.


An dieser Stelle muss ich kurz verharren, denn dieses letzte bemerkenswerte Rollenspiel der Kanadier, das außerhalb von D&D auf einer eigenen Fantasy-Welt beruhte, ist auch ein Bezugspunkt für BG3. Denn dort erlebte man das letzte Mal ein Schauspiel auf Theaterniveau, bei dem man wirklich mit jeder Entscheidung haderte und Konflikte mit in den Schlaf nahm. Weder Pillars of Eternity, das ich sehr schätze, noch irgendein anderes CRPG erreichte danach diese Qualität, wobei ich Mass Effect 2 aufgrund des Szenarios ausklammere. Sprich: Das erste und beste Dragon Age wird für mich der relevante Vergleich sein. Dabei waren auch die kleinen Anfänge der Party-Interaktion schon faszinierend.


Wer kann wen überzeugen? Mal hilft Charisma, mal Intelligenz oder ein spezielles Wissen..

Die Helden wurden bereits im zweiten Teil als Charaktere greifbar, wenn sie in der Sechsergruppe untereinander lästerten, stritten oder flirteten, so dass man eine lebendige Reise erleben konnte - fast so wie mit Freunden, Würfeln und Miniaturen am Tisch. Minsk, Imoen, Jaheira & Co konnten sich bis heute in das kollektive Gedächtnis einer Spielergeneration einbrennen. Daran knüpfen die Larian Studios auch erzählerisch an, so dass man sich auf einige Déjà-vus freuen darf. Genau in diesem Jahr 2000 fing ich jedenfalls bei 4Players an und schrieb meinen ersten Test zu eben diesem BG2, das mich für Wochen an den Bildschirm fesselte.


Ein Jahr zuvor wurde ich bereits im erzählerisch grandiosen Planescape Torment von Black Isle auf erzählerisch einzigartige Weise unterhalten, denn das fühlte sich an wie ein tiefgründiger Fantasy-Roman. Auch dort führte man eine bizarre Gruppe von bis zu fünf Charakteren an, deren sporadisches Gezänk voll vertont war. Das war in vielerlei Hinsicht ein mutiges und bizarres Abenteuer, das auch die Larian Studios spürbar beeinflusst hat. Eine gehörnte Tiefling-Diebin und ein Succubus waren übrigens dabei, auch wenn der Totenschädel Morte die meiste Redezeit für sich beanspruchte.


Aber in BG2 gingen Abenteuer und Geschichte, Kampf und Dialoge eine noch bessere Symbiose ein, es fühlte sich als Erlebnis harmonischer an. Ein derart umfangreiches Rollenspiel hatte ich jedenfalls noch nicht erlebt, ich versackte regelrecht vor dem Bildschirm. Und so einiges an meiner aktuellen Haltung erinnert mich gerade an diese schöne Zeit. Überhaupt schließen sich einige Kreise, denn das CRPG feierte schon damals ein tolles Comeback. Und die Kanadier waren die neuen Meister des Genres.


Die Erben der Faszination


Das alte BioWare gibt es bekanntlich seit über einem Jahrzehnt nicht mehr, lediglich einen weiter in sich zusammen schrumpfenden Schatten von Electronic Arts, vor dem immer mehr Kreativköpfe fliehen und der erst kürzlich weitere 50 Leute entlassen hat. Die Misere begann schon viele Jahre zuvor, der Abgang der Gründer im Jahr 2012 war also nicht der Anfang vom Ende, denn sie erlagen schon viel früher den Angeboten eines gewissen John Riccitiello, diesem CEO mit besonderer Weitsicht. Doch selbst wenn Studios vergehen, lebt von ihren großen Spielen manchmal etwas weiter. Zu den schönen Geschichten von BG gehört auch, dass die Kanadier in ihrer fast zehnjährigen Blütezeit viele andere Entwickler inspirierten. Und einige davon entwerfen bis heute, sogar weitgehend unabhängig, überaus erfolgreiche Rollenspiele.


Dazu gehört u.a. CD Projekt RED, die The Witcher (2007) noch auf Grundlage der Aurora Engine von BioWare designten, und die ähnlich gewissenhaft an dem feilten, was Rollenspieler in den Jahren zuvor so oft vermisst hatten, auch wenn sie rein spielmechanisch einen andere Richtung einschlugen. Die Leidenschaft der Polen für Rollenspiele war auf jeder Präsentation, auf jedem Event spürbar. Sie wussten, dass es da eine Lücke gab. Und sie entführten 2015 mit The Witcher 3 in die bisher lebendigste Metropole der Genregeschichte: die Hafenstadt Novigrad. Das war damals sehr beeindruckend und ich bin gespannt, wie sich Baldurs Tor, aber auch kleinere Siedlungen präsentieren, denn in diesem Bereich urbaner Lebendigkeit ist der Hexer bis heute richtig stark.



Die Spielwelt mutet zunächst sonnig, grell, fast karibisch an.

Auch das komplexe Erschaffen einer Metropole war natürlich ein Bezugspunkt für die Schöpfer dieses dritten Teils. Noch früher als die Polen folgten die 1996 gegründeten Larian Studios den Kanadiern. Zwar irrten sie in Divine Divinty (2002) noch zwischen dem Gemetzel eines Diablo und dem Wesen eines CRPG umher, aber Divinity: Original Sin (2014) sorgte schon für gute, manchmal vielleicht etwas zu kitschige, fast zirkusreif artistische Unterhaltung inkl. physikalischer Wechselwirkungen. Und das reifte drei Jahre später zu einem sehr guten CRPG, in dem das Experimentelle sowie die Story samt Humor und Ernst harmonischer ineinander flossen. Mir war es etwas zu überfüllt mit Sammelkram, außerdem hinsichtlich der Ästhetik sowie Spielwelt nicht ganz so anziehend wie Pillars of Eternity. Aber es hat mir richtig Spaß gemacht und war das Meisterstück der Belgier: vielseitig im Kampf, offen in den Konsequenzen, sehr rätselfreudig.


Das fiel auch Wizards of the Coast auf, den Lizenzinhabern von D&D, so dass die Larian Studios schließlich den Auftrag erhielten, nicht weniger als ein BG3 zu entwickeln. Und parallel zur Vorfreude stieg natürlich die Erwartung. Selbst wenn die Belgier durch die seit Ende 2020 fließenden Millionen-Einnahmen des Early Access getragen, in wenigen Jahren auf weltweit sechs Studios mit über 450 Mitarbeitern gewachsen sind, war der aktuelle finanzielle und offensichtlich spielkulturelle Erfolg in der Presse kein Selbstläufer. Im Gegenteil: Welche Aufgabe kann schwerer sein, als eines der besten CRPG aller Zeiten zwei Jahrzehnte nach dessen Erscheinen als neues Studio fortzusetzen? Man stelle sich den Druck für das Team vor, das irgendwann Bloodborne 2 machen muss.


Die Macht der Action-Rollenspiele


Vor allem, weil das modulare BioWare-Prinzip schon längst von Action-Rollenspielen (ARPG) und offenen Welten überholt wurde. Da geht es nicht um eine Gruppe von Gefährten, sondern meist um einen Helden. Die einflussreichsten Abenteuer der letzten Dekade waren keine CRPG, sie hießen nicht Pillars of Eternity (2015, 2018), Tyranny (2016), Pathfinder (2018, 2021) oder Wasteland 3 (2020), sondern The Elder Scrolls V: Skyrim (2011), Dark Souls (2011, 2013, 2016), The Witcher 3 (2015) und Elden Ring (2022). Ich mag sie alle, ich schätze das fragmentierte Erzählen der Soulsreihe, ich konnte für Tage durch die Landschaften Skyrims stromern, und die Questbögen sowie die mittelalterliche Welt des Hexers überzeugten sowohl mit einer erzählerischen als auch künstlerischen Reife.


Aber mit dem Erfolg all der Action-Rollenspiele geriet etwas in den Hintergrund, das ehemals glänzte: die Party-Interaktion. Und mit ihr die Freude an Story, Dialog und Charakteren innerhalb einer Gruppe, in der es auch mal menschelt. Was wäre Der Herr der Ringe nur aus der Sicht von Aragorn, dem Erben Isildurs? Auch die Vielfalt der Gefährten, ihrer Gedanken und Ängste, sorgt für die bis heute heute zeitlose Anziehungskraft dieser archetypischen Fantasy. Dieses Theater mag einen kampforientierten Spieler nicht interessieren, aber auch in Taktik-Rollenspielen (TRPG) wie Fire Emblem, wo es in Three Houses regelrecht zelebriert wurde, oder kürzlich in Wartales, wo Söldner lediglich in Ansätzen reagieren, trägt es viel zur Stimmung bei.


Und schon in den ersten Rollenspielen wie Wizardry, The Bard's Tale oder Dungeon Master, in denen es gar nicht sichtbar dargestellt wurde, spielte es sich in den Köpfen ab. Wenn man seine Gruppe in die Katakomben schickte, wenn man sich mit den Charakteren fürchtete oder freute, wenn sie sich heilten oder mit dem letzten Schlag retteten. Auch ohne Dialoge und Motion-Capturing entwickelte sich ein Geist der Gemeinschaft, eine Basis für Identifikation. Das zeigte sich übrigens auch in Fallout 2 (1998), bevor Bethesda als auch Obsidian es leider komplett ignorierten und sich auf andere Stärken in der Landschaft sowie Charakterentwicklung konzentrierten.


Karmische Würfel? Hab ich deaktiviert.

Aber zurück in die Gegenwart, sogar zu einem ersten Fazit: Denn die größte Leistung von BG3 ist für mich nach knapp 40 Stunden weder das Artdesign noch die Spielwelt, weder die fast werktreue Umsetzung der 5. Edition von D&D noch der ach so enorme Umfang, sondern die Anknüpfung an genau diese Kommunikation innerhalb der Gruppe, diese gefühlte Renaissance der lebendigen Party-Interaktion. Man erlebt auf der Bühne all der epischen Konflikte nicht nur Kampf, sondern endlich wieder Schauspiel im besten Sinne. Natürlich gibt es noch andere Stärken sowie Schwächen, auch in diesem Bereich. Und damit öffne ich den Vorhang zum ersten Akt von BG3. Ähm, ist überhaupt noch jemand wach? Vielleicht hilft ja ein Erdbeben.


Im Bann des Nautiloiden


Laut Sam Goldwyn (1894-1918), dem berühmten Hollywood-Produzenten, sollte eine Geschichte mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam bis zum Höhepunkt steigern. Diesem tückischen Ratschlag folgen die Larian Studios, denn sie lassen nicht weniger als einen hunderte Tonnen schweren Nautiloiden nach einem furiosen Luftkampf gegen rote Drachenreiter vom Himmel stürzen. Sie inszenieren das Gefecht gegen diesen cthulu'esken Giganten auf filmreifem Niveau, und pflanzen dem Spieler gleichzeitig zu diesem Spektakel das eigene Todesurteil ein: die Larve eines Gedankenschinders, die ihn von innen auffressen und normalerweise innerhalb weniger Stunden oder Tage verwandeln wird. Also lautet die existenzielle Frage: Wie kann man das verhindern? Gibt es Heilung?


Auch wenn sie danach ein wenig die Bodenhaftung verliert, gebührt der Regie für diesen Einstieg ein großes Lob. Denn man fühlt sich sofort mittendrin in einem Abenteuer, das die persönliche Tragik der Helden ebenso elegant wie mysteriös mit dem Schicksal der Welt verknüpft. Denn dass da überhaupt Illithiden in einem noch selteneren Nautiloiden über der Schwertküste segeln, hat natürlich weniger mit einem Wochenendausflug als vielmehr Eroberung zu tun, die auch überall über marodierende Goblinhorden, dahingemetzelte Reisende und Flüchtlinge in der Region spürbar wird. Für einen militärischen Konflikt sprechen auch die Drachenreiter der echsenhaften Githyanki, die kriegerischen Erzfeinde der Gedankenschinder, die das Ungetüm Feuer speiend zum Absturz bringen. Wie aggressiv dieses Völkchen ist, wird man bald selbst erleben. Aber wer will hier was erobern? Geht es um die nächst größere Stadt Baldurs Tor? Oder etwa um mehr, um den Kontinent Faerun oder gar um die ganze Welt?


Hier beginnt man jedenfalls nicht im Angesicht der Sorgenfalten eines alten Zauberers oder in einem von Ratten verseuchten Tavernenkeller, sondern als hilfloser Gefangener eines sadistischen Illithiden, einer der gefährlichsten und intelligentesten Kreaturen dieser Fantasywelt. Und damit gelingt den Belgiern sehr viel auf einmal: Erstens kann man sich kaum von den Szenen lösen, die bis zum zappelnden Wurm hinter dem Auge dargestellt werden. Zweitens erinnert diese morbide Ausgangslage angenehm an den Start von BG2, als man ja von Schreien begrüßt in einem Folterkeller erwachte. Und drittens ist man nicht das einzige Opfer. Deshalb ist der bevorstehende Tod meist das erste Gesprächsthema und langfristig verbindende Element zwischen den Gefährten - ein klasse Kniff, den man sich als Spielleiter merken sollte, wenn man eine Gruppe aus Fremden am Tisch versammelt.


Das Pen&Paper-Flair


Apropos Pen&Paper: Ich habe einiges über BioWare und die Anknüpfung an die Tradition erzählt. Die Larian Studios fügen aber auch frische Elemente hinzu, die dafür sorgen, dass ich mich als Rollenspieler wohl fühle. Da wäre zum einen die angenehme Stimme der Erzählerin, die manche Szenen in englischer Sprache kommentiert. Das können Beschreibungen von Gesprächspartnern, von Architektur oder kleine mysteriöse Situationen sein, die eine weitere Betrachtung verdienen. Sie hätte gerne noch viel öfter ertönen dürfen, und nicht immer wird das Beschriebene konsequent auserzählt. Aber so wird auf sympathische Art eine Spielleiterin simuliert, die gewisse Momente aufwertet und der ich einfach gerne zuhöre. In so mancher Rätselsituation gibt sie auf subtile Art den entscheidenden Hinweis, indem sie auf seltsames Verhalten oder Spuren aufmerksam macht. Das hätte ich mir auch öfter von den Gefährten gewünscht, die etwas zu selten spielbezogenene Ratschläge geben.


Lae'zel hat eine besondere Art der Diskussionskultur.

Aber sie sind dennoch aktiv, mischen sich in wichtige Situationen ein und so entsteht angenehmes Pen&Paper-Flair, das durch das sichtbare Würfeln noch verstärkt wird. Es war eine sehr gute Entscheidung, den W20 wirklich rollend zu animieren und dem Spieler über die simulierte Haptik das Gefühl des aktiven Würfelns zu geben. Die edle Inszenierung mit den goldenen Effekten und dezenten Geräuschen trägt dazu bei, dass man sich wie an einem Tisch fühlt; man kann sogar zwischen drei Designs wählen. Und last but not least ist die belohnende Funktion der Inspiration sehr sinnvoll damit verknüpft: Wenn man in der 5. Edition gutes Rollenspiel zeigt, indem man gemäß seiner Ideale oder Klasse agiert, kann der Spielleiter dafür Inspirationspunkte verteilen, die wiederum bei kniffligen Würfen helfen. Ähnlich erlebt man das digital, denn damit kann man ganze Würfe wiederholen.


Ach so: Ich hab die beim Start automatisch aktiven Karmischen Würfel sofort abgeschaltet. Darauf hätten einen die Larian Studios gerne hinweisen dürfen. Denn das ist eine Art Komfortfunktion, die Würfelergebnisse so anpasst, dass man quasi keine fortlaufende Pechsträhne wie 1, 3, 1 mit seinem W20 erlebt. Ich mag dieses geglättete System allerdings nicht, das übrigens auch für die Feinde zum Einsatz kommt. Es wurde viel über den statistischen Nutzen für den Spieler diskutiert, es wurde auch einiges im Laufe des Early Access angepasst. Aber ich mag Würfel gerne in all ihrer extremen Art. Natürlich trägt dazu auch die Gewissheit des Speicherns bei, das jederzeit vor einer Probe möglich ist. Aber was hab ich schon über die 1 und kritische Misserfolge geflucht!


Das Problem ist auch vielmehr das starre Ergebnissystem dieser 5. Edition von D&D, das nur absolute oder keine Erfolge bzw. Treffer ermöglicht; ich meine, es war in der 4. Edition sogar vorhanden. Es gibt hier jedenfalls keine Teilerfolge, Streifschüsse etc. wie etwa in Pillars of Eternity, das ein tolles Ergebnisprinzip der Graustufen bot. In BG3 gibt es also nur Erfolg oder Misserfolg. Das führt nicht nur dazu, dass manche Kämpfe in die Länge gezogen werden, sondern dass es sich einfach nicht realistisch anfühlt, wenn eine Barbarin bei 90% Erfolgswahrscheinlichkeit mit ihrem Zweihänder zu einem Rundumhieb auf drei Feinde ausholt, leider sehr schlecht würfelt, und dann rein gar nichts in diesem Radius vor ihr trifft. Das traditionell schlechte Kampfsystem von D&D, das in seiner streng dualen Art schon immer sehr auf Hitpoints fixiert war, war übrigens auch ein Grund dafür, dass 1980 Rolemaster als Pen&Paper-Alternative mit wesentlich besserer Trefferauswertung entwickelt wurde.


Charakter aus zwölf Klassen


Aber wer kriecht da überhaupt aus den fleischigen Trümmern des abgestürzten Tentakelriesen? Wer ist man überhaupt? Man kann quasi alles sein. Die Charaktererschaffung ist ein exotischer Spielplatz der Fantasy, inkl. diverser Völker, Fähigkeiten, Zauber, Verwandlungen und Begleiter in zwölf Klassen samt 40 Unterklassen. Und die bieten so einige interessante Nebenpfade für Barden, Paladine, Mönche & Co. Obwohl man kritisch einwerfen muss, dass mit der Zeit alles ein wenig verschwimmt und gefühlt jeder sowohl zaubern als auch kämpfen kann. Vor allem magische Ausrüstung und Schriftrollen verstärken das Gefühl und entwerten für meinen Geschmack den arkanen Zauber, denn selbst ein Barbar wirft auf einmal mit Blitzen oder Feuerbällen um sich.


Ich bevorzuge ein strengeres Kastensystem und Low Fantasy mit spartanischer Magie, in der sie etwas Besonderes ist. Das ist aber ein generelles Merkmal von D&D, an dessen Kultur und Regelsystem sich die Larian Studios natürlich weitgehend halten. Und in dieser Vielfalt stecken auch tolle Facetten, die man alle im Spiel findet. Selbst an die Details des Hexenmeisters hat man gedacht, der für seine arkanen Kräfte einen Pakt mit einem übernatürlichen Wesen eingehen und kleine Wesen als Ratgeber beschwören kann. Aber man wählt hier keine der klassischen neun Gesinnungen wie etwa chaotisch gut, rechtschaffen neutral oder neutral böse. Es gibt übrigens auch keine dynamische Moralanzeige. Je nachdem wie man sich verhält, wird man am Ende des Spiels zugeordnet. Während des Spiels bekommt man Feedback über Sätze wie "Astarion gefällt das" oder eben nicht. Außerdem sind Verstimmungen manchmal an der Art und Weise zu erkennen, wie Gefährten in den Dialogen auftreten, was wunderbar ist.


Das Ausbuddeln von Schatzkisten gehört zu den albernen Sammelroutinen...

Auch ohne Vorkenntnisse wird man sich jedenfalls schnell in der Charaktererschaffung zurechtfinden, die neben diversen Stimmen visuell all das anbietet, was man seit Jahren kennt. Man kann sich von der Statur bis zur Frisur, von der Augenbraue bis zur Narbe in allen körperlichen Facetten vom gehörnten Tiefling bis zum faltigen Gnom austoben. Selbst die Größe der Genitalien lässt sich anpassen, was mich zwar nach Cyberpunk 2077 nicht mehr wundert, aber immer noch ein wenig stutzig macht. Ich werde an späterer Stelle über die manchmal etwas zu aufgesetzt wirkende Sexualisierung sprechen. Dieser Aspekt kann natürlich erzählerisch relevant sein, aber hat mich an Rollenspielen nie besonders interessiert; und der in Spielen meist peinlich dargestellte Akt an sich wurde schon in Zeiten von Mass Effect viel zu breit diskutiert.


Bei der Wahl der Klasse mag sich der eine oder andere vielleicht überfordert fühlen. Aber man kann an dieser Stelle nichts falsch machen, zumal man recht früh im eigenen Lager die Berufswahl gegen einen kleinen Obolus ändern oder eigene Söldner erstellen darf, falls denn Platz ist. Denn lange Zeit ist der Kader auf vier im Spiel und sechs bzw. sieben im Lager begrenzt. Auch der dreistufige Schwierigkeitsgrad lässt sich später jederzeit anpassen; ich habe auf normal gespielt und wurde bisher so ordentlich gefordert, dass manche Schlacht wiederholt werden musste, weil die Hälfte in der zweiten Runde komatös am Boden lag. Es gibt übrigens automatisches und manuelles Speichern, ebenso ein Schnellspeichern als Tastenkombo, allerdings mit begrenzten Plätzen auf der PS5. Das führt seit Mitte des ersten Kapitels dazu, dass ich immer wieder welche löschen muss, was natürlich an meinem ständigen Speichern liegt.


Dunkle Geheimnisse


Wer sich nicht selbst basteln, sondern eine Rolle mit Agenda spielen will, kann eine vorgefertigte Figur mit Biografie wählen. Alle seit Jahren bekannten Nichtspieler-Charaktere (NSC) wie Astarion, Lae'zel, Schattenherz, Wyll, Gale und Karlach stehen zur Verfügung, die als Typen wunderbar markant auftreten und hervorragend eingesprochen sind. Diese schauspielerische Leistung und die Qualität der Dialoge knüpft an das an, was man in Dragon Age erleben konnte. Ich spare mir an dieser Stelle genaue Beschreibungen von Klasse und Charakter, denn die dürften bekannt sein, aber streue später immer mal wieder Anmerkungen dazu ein. Allerdings vermisse ich in diesem Aufgebot etwas Kleinwüchsiges: einen Zwerg, einen Halbling oder einen Gnom; auch ein Halb-Ork fehlt. Vielleicht wundere ich mich deshalb, weil zumindest die ersten beiden Völker von prominenten Archetypen wie Bruenor Heldenhammer oder Regis Knurrbauch in der Fantasy-Literatur von R.A. Salvatore dargestellt wurden.


Aber wie gesagt: Die vorhandenen Charaktere bestechen mit sehr interessanten, extrem detailliert ausgearbeiteten Hintergründen, die sich auf hunderte Situationen und Dialoge auswirken. Es gibt unter ihnen auf den ersten Blick keine Art von Gewöhnlichkeit, sondern familiäre, psychische und dämonische Abgründe in allen Facetten, voller düsterer Zwänge oder tödlicher Geheimnisse. Ein Psychiater würde die meisten davon in eine medizinisch betreute Therapie oder gar geschlossene Anstalt einweisen. Auf jeden Fall würde er von engeren Beziehungen mit Ladys und Gentlemen abraten, die in den kommenden Tagen vor Wut oder aufgrund implantierter oder arkaner Sprengmittel explodieren könnten. Es gibt Situationen, da scheint der Wurm im Auge tatsächlich das kleinste Problem zu sein.


Die Riege kulminiert in einer speziellen Figur namens Dunkles Verlangen, die seit ihrem Gedächtnisverlust von einem kaum kontrollierbaren Blutdurst und Gewaltpotenzial angetrieben wird, was sich natürlich auf die Gruppe und viele Quests auswirkt. Aber als Freund von Drizzt Do'Urden habe ich mich für einen Dunkelelfen der weniger fanatischen Seldarine und den Hexenmeister als Klasse entschieden. Und weil in diesem Abenteuer so früh Tentakel auftauchen, hab ich mich gleich dem Großen Alten verschworen. Ich habe also bis ins Finale die Ungewissheit im Rücken, dass er irgendwann etwas für die arkanen Kräfte verlangen wird, die er mir geschenkt hat. Vermutlich etwas Unangenehmes.


Dass man derartige Rollen überhaupt ohne Aufschrei spielen darf, vor allem in den USA, zeigt übrigens den großen gesellschaftlichen Unterschied zu den 80er-Jahren, als man D&D noch mit Satanismus in Verbindung brachte. Lange bevor der Shooter als Killerspiel diffamiert wurde, ging es tatsächlich um Pen&Paper. 1982 spielte Tom Hanks seine erste Hauptrolle im Kinofilm Labyrinth der Monster, in dem es, durch Fake News rund um einen tatsächlichen Mord inspiriert, um Realitätsverlust durch Rollenspiele geht. Und Publisher TSR gab noch 1989 dem Druck der konservativen Öffentlichkeit nach, verbannte "sensible" Begriffe wie Teufel und Dämonen, sogar Assassinen und Halb-Orks aus der 2. Edition von AD&D. Die sollte weniger moralische Grauzonen, dafür heroisches Gut und Böse liefern, um Teenager nicht in ihrer Entwicklung zu gefährden...tja, damit hat wohl jede Generation zu kämpfen.


50 Shades of Evil


Und Baldur's Gate 3? Das wäre 1985 vermutlich von Ronald Reagan verboten und im Bible Belt verbrannt worden, zumal nicht nur überall gehörnte Tieflinge rumlaufen. Ich überspitze jetzt etwas, aber im ersten Akt wimmelt es recht schnell vor Blut und Eingeweiden, Gewalt und Sadismus, Höllenfürsten und Erzteufeln. Schon der Absturz des Nautiloiden hat ja klar gemacht, dass man explosiver und gefährlicher als klassische High-Fantasy beginnt, die sich gemütlich bei Pfeifenrauch aufbaut, mit einem Troll in der Nachbarschaft und einem verrückten Magier in der Ferne. Aber ich hatte weiter oben die fehlende Bodenhaftung erwähnt.


Denn bei allem Lob für den grandiosen Einstieg, fiel es mir danach schwer, die inneren Zusammenhänge der Spielwelt, also ihren Alltag, ihre Kultur und ihre Politik zu erkennen, zumal in den ersten Stunden danach alles recht schrill und zu einseitig dämonisch wirkte. Und es sah mir ein wenig zu bunt, zu grell und schnieke aus. Wenn man sich zu Beginn aus den Trümmern des Nautiloiden auf Erkundung begibt, erblickt man eine fast karibisch anmutende Landschaft, in der das Wasser so glitzert und die Sonne so scheint wie in Divinity: Original Sin 2. Mir hat diese Kulisse nicht auf Anhieb gefallen und diese stilistische Nähe ist zu einem Teil sicher der Entwicklungsgeschichte geschuldet.


Raphael, einer der vielen Antagonisten des Bösen...

Die an der Renaissance orientierte Mode, die feinen Stoffe und das mitunter farbenplumpe Artdesign einiger Rüstungen, konnte mich nicht so abholen wie etwa die durchgehend reife Ästhetik aus The Witcher 3, obwohl diese durchaus ähnliche kunsthistorische Einflüsse verarbeitet, also Mittelalterliches und Frühneuzeitliches. Die Welt des ersten Aktes wirkte manchmal wie ein Patchwork an Stilen und Motiven. Aber letztlich ist auch das ein Merkmal von D&D. Aber ich kann schonmal vorwegnehmen, dass es im ersten Akt vor allem unter Tage visuell interessanter wird und dass der zweite Akt fast einen ästhetischen Stimmungswechsel einleitet, den ich eine künstlerische Klasse höher einstufen würde. Spätestens dort hab ich mich dann wirklich in den Vergessenen Reichen gefühlt, zumal die Tonalität ernster wird.


Aber mir fehlte nach dem Erdbeben ein wenig die Zeit zum Sackenlassen, denn die Larian Studios wollten sich scheinbar schnell steigern. Man wird vom Bösen und Antagonisten in allen Nuancen umzingelt, sowohl in der eigenen Gruppe als auch von außen, im weiteren Verlauf von grausamen Dunkelzwergen bis zu fanatischen Kultisten, Halbgöttern und Generälen. Man fühlt sich fast wie in einer Art 50 Shades of Evil. Zumal Satan höchstselbst plötzlich mit Schwefelgeruch vor einem zu stehen scheint. An dieser Stelle, als sich Raphael wie ein Deus ex machina zeigte, war ich skeptisch, wie man das dämonische Chaos und seine zur Schau gestellte Allmacht erzählerisch so einfangen will, dass man als Spieler nicht die Motivation und vor allem die Übersicht der Zusammenhänge verliert. Vor allem, wenn man D&D und die Vielfalt der Neun Höllen dieser Fantasy nicht kennt, in der ja reichlich altorientalisch und biblisch klingende Gestalten wie Asmodeus, Baalzebul & Co ihr Unwesen treiben. So ähnlich ging es einigen vielleicht damals mit Planescape Torment, wenn man all die Ebenen und skurrilen Charaktere erstmal verinnerlichen und sich selbst verorten musste.


Aber das fangen die Hintergründe der Gefährten mit der Zeit auf, sowohl in der Gestalt der Barbarin Karlach, die als Tiefling aus einer dieser Höllen vor einer Erzteufelin fliehen konnte, als auch mit Wyll, der einer Dämonin als Hexenmeister ein recht fatales Versprechen gab. Schließlich ist da noch die Klerikerin Schattenherz, die recht fanatisch ihrer grausamen Göttin Shar folgt. Je intensiver man sich im Lager mit den Gefährten beschäftigt, desto mehr erkennt man die Unterschiede und Abstufungen des Bösen.


Zwischen Macht und Freiheit


Und hier greift die erzählerische Ausgangslage, die dazu animiert, sich Gedanken zu machen. Dem Spieler kommt ja sofort die Rolle eines Vermittlers zu, denn er ist telepathisch mit anderen Wurmträgern verbunden, kann ihre Gedanken spüren und sie (wenn er rücksichtslos sein und ihren Ärger riskieren will) lesen. Recht heikle Fragen muss man gleich zu Beginn beantworten: Was macht man mit einer Stimme, die in einem pulsierenden Hirn gefangen ist und raus will? Wie geht man mit seinem Peiniger um, dem Illithiden, der schwer verletzt am Boden liegt? Und wie reagiert man auf das seltsame Flüstern im eigenen Kopf, das einen dazu ermutigt, sich anderer Gedanken zu bemächtigen und andere Wesen zu steuern? Hat man vielleicht sogar Spaß daran?


Diese ständige Versuchung wird, von mehreren Antagonisten angetrieben, ein Leitmotiv der Story. Sie wird immer stärker und sie bietet einem immer mehr Macht an. Selbst in Träumen wird man dazu animiert. Und bald sogar in einem eigenen Fähigkeitenbaum mit freischaltbaren Aktionen, wenn man denn gefundene Larven der Illithiden verspeist. Geht man diesen ekligen Schritt? Man kann jede Stimme ignorieren, man kann selbst auf diese spielinterne Entwicklung verzichten, in der man allerdings so nützliche Aktionen und Angriffe bekommen kann. Und das, wenn man gerade stark in den Gefechten zu kämpfen hat. Genau das ist neben der Party-Interaktion die zweite große Stärke dieses Abenteuers, dass man fast immer dieses Gefühl der Freiheit und Konsequenz erlebt, und zwar in ansteigender Dringlichkeit, sowohl als Charakter als auch in der Gruppe.


Die Idylle trügt...

Denn alle haben nur Ahnungen, wo oder wie man geheilt werden könnte, so dass sich auf der Karte gleich mehrere alternative Ziele auftun. Kann ein Druide helfen, eine Goblin-Schamanin, ein Ritual der Githyanki, ein Dämon oder muss man direkt nach Baldurs Tor? Schon in den Diskussionen über diese Routen ergeben sich Konflikte, zeigen sich mehr oder weniger energische Charaktere, die sogar androhen, die Gruppe zu verlassen. Und je nachdem, wie gewissenhaft man die Umgebung des Absturzes absucht, wie sehr man sich Neugier zutraut, findet man mehr oder weniger Gefährten. Den Schurken Astarion kann man übrigens ebenso übersehen wie den unglücklich fest sitzenden Magier Gale. Auf der Umgebungskarte gibt es zwar (etwas zu früh) Zielmarker für die erwähnten Orte, aber keine für auffindbare Helden.


Das ist für mich ebenfalls eine Stärke dieses Abenteuers, das auch ohne offene Welt eine Art von Freiheit suggerieren kann: Denn Entscheidungen können eben dazu führen, dass man interessante Charaktere oder später, je nach Routenwahl, komplette Abschnitte wie das Gebirge oder das Unterreich gar nicht erlebt. Und wer sich in Schlüsselsituationen dazu entscheidet, weiter vorwärts zu gehen, wird komplette Quest-Stränge aufgeben müssen. Sprich: Auch wenn mir all die apokalyptischen Reiter zu schnell galoppieren und das Artdesign nicht auf Anhieb gefällt, kann ein Rollenspiel fast nicht besser beginnen. Das Wörtchen fast ist hier wichtig, denn auch so einiges andere hat mir im ersten Akt nicht gefallen, der mich gut, aber nicht besonders herausragend unterhalten konnte.


Eine Frage des Humors


Ich mag zwar die physikalischen Wechselwirkungen von Feuer und Öl, von Elektrizität und Wasser sowie alles, was die taktische Vielfalt erhöht. Auch das Stapeln von Fässern, um erhöhte Plattformen für einen Sprung zu bauen, ist sinnvoll. Ich werde auf das Kampfsystem in einem späteren Teil genauer eingehen. Aber die Spielwelt ist mir teilweise zu verspielt: Es ist natürlich in den Momenten cool, wenn man durch Löcher tolle Abkürzungen oder durch Wahrnehmungswürfe versteckte Hebel und Wege entdeckt. Es sieht aber albern aus, wenn man überall in der Wildnis vergrabene Schatzkisten mit der Schaufel ausbuddeln kann. Und zu Beginn quietscht und knarzt es auch deshalb in der Atmosphäre, weil die Situationskomik manchmal nicht zur höllischen Realität passen will.


Hier entfernen sich die Larian Studios von der Tonalität der Kanadier und folgen ihrer eigenen Tradition samt den Anflügen von Klamauk, der schon in Divinity spürbar war. Manchmal zündet der Witz auch, so ist es nicht. Wenn man etwa den an einem Windmühlenrad gefesselten Tiefengnom eigentlich befreien will, indem man die Bremse feststellt, aber diese aus Versehen löst und der kleine Kerl wie ein Baseball durch die Luft fliegt - leider mit tödlichem Ende.


Die beiden wurden beim Stelldichein unterbrochen - und sind sauer.

Aber spätestens als eine Scheune erzitterte, weil es dort eine Ogerlady mit einem Grottenschrat trieb, fühlte ich mich wie in einer schlechten Asterix-Parodie für Erwachsene. Oder anders: Das war nicht mein Humor. Und wie erwähnt, gelingt es den Larian Studios im ersten Gebiet noch nicht, eine glaubwürdige Spielwelt aufzubauen. Man fühlt sich in der Landschaft nach dem Absturz geografisch etwas verloren, weil man nicht genau weiß, in welcher Gegend und welchem Königreich man überhaupt unterwegs ist. Warum gibt es einen Nebel des Krieges samt einer Regionskarte, aber keine überregionale Ansicht der Schwertküste? Schade ist auch, dass die Gefährten keine Karte dabei haben. Man weiß nur, dass man sich am Fluss Chionthar befindet und dass Baldurs Tor wohl zehn Tagesmärsche entfernt ist.


Hier bekommt das eingangs so gelobte Pen&Paper-Flair auch einen Dämpfer. Denn es gibt zwar sehr viele Bücher über Religion, Kultur und Geschichte, aber hier zeigt Larian mehr Masse als Klasse. Dass man moderne Schrift zur besseren Lesbarkeit verwendet, ist ja okay. Aber dass man sie in keiner Weise illustriert, dass es keinerlei Zeichnungen oder Skizzen gibt, und dass man selbst dann keine Karten sieht, wenn sie ausdrücklich im Text erwähnt werden, ist eine Enttäuschung. Vielleicht bin ich hier zu bibliophil veranlagt, aber mir fehlt quasi der vergilbte Papiergeruch, zumal manche Bücher nur aus vier, fünf Zeilen bestehen. Auf dieser illustrativen Ebene war Pillars of Eternity wesentlich liebevoller und sorgte über Schrift und Zeichnungen für ein angenehm gediegenes Flair.


Kein Gefühl für die Region


Diese Texte tragen natürlich trotzdem dazu bei, wenn auch nur bruchstückhaft, dass sich ein besseres Bild der Welt und der Konflikte ergibt. Das ist auch wichtig, denn es will über das rein Spielerische nur langsam ein Gespür für die normalen Leute oder die Region entstehen, wie das in Ansätzen in einem The Witcher 3 mit Patrouillen und Dorfalltag zu sehen war. Hier wird der modulare Charakter statischer Situationen doch manchmal all zu deutlich. Man begegnet z.B. direkt unter einer von Goblins und Ogern besetzten Siedlung, in der die Bevölkerung massakriert wurde oder geflohen ist, irgendwann mal zwei Bauern. Die haben nichts Besseres zu tun, als sich mit einer alten Frau über den Verbleib eines Mädchens zu streiten und sie mit Mistgabeln zu bedrohen.


Nicht, dass eine potenzielle Entführung kein relevantes Thema wäre! Aber es wirkt an dieser Stelle arg konstruiert: Wo leben die beiden Bauern? Wo kommen sie her? Warum haben sie keine Angst vor den wenigen Metern entfernten Goblins, wo doch alle anderen geflohen sind? Wenn man die Karte öffnet, sieht man weit und breit keine Häuser und der Hain mit den Flüchtlingen ist weit weg. Wenn man sich hier einmischt, was man offensichtlich tun soll, erlebt man zwar eine böse Überraschung, aber die war fast offensichtlich und das damit verbundene Sumpf-Szenario wirkt wie ein künstlich geschwärztes Märchen-Modul, das man an die karibisch glänzende Absturzstelle geklebt hat. Das klingt jetzt viel schlimmer als es ist, aber das war für mich ein atmosphärischer Bruch.


Druidenhain und Lager-Romantik


Kompensiert wird das durch den Druidenhain. Der ist immerhin ein erster gesellschaftlicher Ankerpunkt, denn dort wird so etwas wie der Alltag einer Siedlung simuliert, in der Tieflinge und Druiden nicht ganz harmonisch zusammen leben, in dem es Misstrauen und Konflikte gibt, die einen in Nebenquests richtig überraschen. Endlich hört man mal Schmiede, kann Streit und Training beobachten, wenn auch in sehr kleinem Maßstab. Außerdem merkt man spätestens hier, dass Diebstahl durchaus Konsequenzen hat: Als ich aus Versehen einen rot umrandeten Gegenstand aufnahm, wurde ich sofort zur Rede gestellt, konnte versuchen mich rauszureden oder mein Gegenüber zu bestechen, aber landete schließlich im Gefängnis. Vielleicht meinte ich auch soetwas mit Bodenhaftung.


Die gibt es auf persönlicher Ebene immer wieder im Lager, wenn Gefährten irgendwann Gesprächsbedarf haben. Man kann das ignorieren, aber meist ergeben sich interessante Einblicke, auch wenn die Geschwindigkeit, mit der die neuen Gefährten dem Helden ihr Vertrauen schenken, teilweise zu hoch ausfällt. Mit Gale hatte ich keine zwei Worte gewechselt, und ihn nur einmal in der Gruppe dabei, da sprach er schon von all dem, was wir zusammen erlebt hätten. Natürlich muss die Regie hier ein wenig tricksen, aber auch manch anderes in den Beziehungen geht doch recht flott.



Das war erst der Auftakt in das Abenteuer, von dem es noch mehr zu berichten gibt.

Die erwähnte Sexualisierung kulminierte irgendwann in einer Lagernacht, in der alle nur das eine wollten. Was eher plump wirkte, weil das plötzlich in allen Dialogen so offensichtlich war. Das ist ja bekanntlich bis zum Akt in allen Konstellationen möglich; Larian hat sogar entsprechende Flirt-Texter und Dessous-Designer engagiert. Bei der aggressiven Lae'zel war das auch recht amüsant, bis mich ihre Blicke nach der Abfuhr fast getötet haben. Ich bin also nicht darauf eingegangen. Aber nach einem Abend mit vielen gescheiterten Avancen wurde ich auf die Abstinenz angesprochen und konnte z.B. sagen, dass ich Besseres zu tun habe. Dieses Spiel merkt sich tatsächlich alles, stellt sogar Fragen zur eigenen Haltung, was mich wiederum angeregt hat, aufmerksam zu bleiben.


Das bleibe ich auch angesichts vieler offener Fragen, die ich im zweiten Teil der Rezension beantworte. Da wäre auf erzählerischer Ebene offen, inwiefern es ein Gegengewicht zu all dem Dämonischen und den Antagonisten gibt, ob es andere Fraktionen gibt. Außerdem gehe ich näher auf den ästhetischen Stimmungswechsel ein, der sich gegen Ende des ersten Kapitels schon andeutet. Damit zusammen hängen die Dungeons und Tempel, die ich in ihrer Wirkung noch gar nicht diskutiert habe. Ebensowenig wie die Steuerung, das Management der Gruppe, die Entfaltung des Lagers sowie die Möglichkeiten des Kampfsystems, die Art der Rätsel, die Alchemie, das Inventar oder die Charakterentwicklung. Aber keine Bange, das Fundament ist gelegt, jetzt wird nicht mehr so tief gegraben, sondern nur noch schlank angebaut.

24 Comments


Jörg Luibl
Jörg Luibl
Sep 27, 2023
Like

Sven
Sven
Sep 25, 2023

Einige spezifische Gedanken zu Deiner interessanten Analyse:

- Wahl des Bezugs zu Dragon Age Origins macht Sinn

Wäre ich nicht drauf gekommen, aber ja - macht total Sinn. Ich habe mich des Öfteren gefragt, warum mich BG2 noch mehr gepackt hat als BG3 und Co. Meine offensichtlichste Erklärung ist, dass diese technisch limitierte Art mit im Verhältnis kaum vorhandener Sprachausgabe, dem Erzählen über handgemalte Bilder und viel, gut geschriebener Texte einfach stärker die eigene Fantasie entfacht. Und sowas inspiriert einfach mehr und stellt eine stärke Bindung her. Das ist aber ein grundsätzlicher Unterschied zwischen diesen klassischen cRPGs und moderner 1st or 3rd Person RPGs. Für mich ist das ein Fakt. Daher ist der Referenz zu DA:O viel naheliegender. Immer wieder…


Like
Jörg Luibl
Jörg Luibl
Sep 26, 2023
Replying to

Danke für diese Gedanken. Auch für den Hinweis darauf, dass Larian in der Ogerszene vorwarnt und den "Beweis" letztlich der Neugier des Spielers überlässt (das hätte ich hinzufügen können). Und klar, die für mich fremd wirkende Märchenpassage wurde in sich, wenn man sie auf den Kontakt zur Hexe bezieht, angenehm offen gestaltet. Diese Freiheit ist fast durchgehend die große Stärke. Aber das Erzählen über die Landschaft wirkte auf mich eher wie ein Vorhang, der plötzlich fällt; sah trotzdem stimmungsvoll aus. Man könnte fast jede Quest genauer interpretieren, weshalb ich mich schon stark in der Szenenanalyse zurückhalte. Aber ja, die Rezension hätte man kürzen und dann noch zweiteilen können. Ich nehm mir das auch immer wieder vor. Vielleicht gelingt es mi…

Like

Wenn hier schon aus allen Ecken erwähnt wird, Dragon Age: Origins: Das habe ich auch mehrfach durch (drei mal minimum, vermutlich sogar eher vier mal und mind. ein weiteres mal angefangen...). Hat mich damals einfach total in seinen Bann gezogen. Spätestens ab dem Moment, in dem Morrighan und Alistair ihre ersten Zankereien mitten beim durch die Gegend stromern auslebten. Mal ehrlich, wann wird das endlich mal vom Remake/Remaster-Wahn erfasst, der überall um sich greift? Was Baldurs Gate 3 anbelangt, bin ich hingegen zwiegespalten. Nicht aufgrund des Ob, sondern des Wann. XD Ich hab noch so vieles in der Richtung offen (Divinity 2, PoE, Wasteland 3, Torment: Tides of Numenera), teils angefangen, teils weit gespielt, dann doch aus Ermangelung von Zeit unterbrochen und…

Like

DECVRIO
DECVRIO
Sep 22, 2023

Das war ein Einstieg, wie er sein sollte. Ich gehöre wohl zu den wenigen, die das Spiel noch nicht ihr Eigen nennen.


Dragon Age: Origins habe ich gefressen (mehrfach) und es hat (immer wieder) sehr gemundet, aber hier bin ich noch sehr unschlüssig. Mit D&D habe ich sehr wenige Berührungspunkte. Es ist weniger das Regelwerk und die unbekannte Welt, in die ich mich erst reinfressen müsste. Es ist eher der Umfang, der evtl. Zeit fressen will, die gar nicht da ist...


Ich bin auf jeden Fall auf die nächsten Teile gespannt. In der Hinsicht habe ich Zeit. 😉

Like
Jörg Luibl
Jörg Luibl
Sep 22, 2023
Replying to

Falls Dragon Age geschmeckt hat, dann wird dir das hier auch munden. Aber ja, daneben spielt man dann nix anderes.

Like

Jannik
Jannik
Sep 22, 2023

Ist zwar überhaupt nicht meine Art von Spiel und werde es auch nach dem Lesen deines Textes nicht ausprobieren, möchte aber trotzdem kurz meine Begeisterung für den ersten Teil der Rezension bekunden.


Man spürt einfach, dass du keine halben Sachen machst und mit welcher Hingabe und Motivation du, in diesem Fall, an BG3 herangegangen bist und diesen Text geschrieben hast. Ich finde genau das ist es, was Spielvertiefung auszeichnet. Ich freue mich auf mehrere Artikel über ein Spiel, dass mich per se nicht mal interessiert. Klingt komisch ist aber so😅

Like
bottom of page