Rezension: Das Geheimnis der See (Bram Stoker)
- Jörg Luibl
- 7. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Apr.
Ich hätte vor dem Lesen dieses Romans von Bram Stoker aus dem Jahr 1902 nicht gedacht, dass ich in der Einleitung tatsächlich einen Bezug zu Videospielen herstellen würde. Immerhin geht es in "The Mystery of the Sea" offiziell um eine Gothic Novel an der schottischen Ostküste gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Aber wonach klingen ein legendärer Goldschatz, das Erbe von Sir Francis Drake, Rätsel und Katakomben, skrupellose Banditen sowie eine Romanze zwischen Held und tougher Lady?
Bei Videospielern mit einem Hang zum Action-Adventure müsssten jedenfalls Bilder aus Uncharted vor dem geistigen Auge erscheinen, das 2007 exklusiv für PlayStation 3 erschien und bis 2017 als Serie von Naughty Dog entwickelt wurde. Dessen Story sowie Charaktere wurden ja von Amy Hennig ersonnen, die vor ihrer großen Karriere in der Videospielbranche englische Literatur studierte. Zwar sind die Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Uncharted und diesem Roman von Bram Stoker so oberflächlich, dass man sie nicht direkt vergleichen kann.
Doch es gibt verblüffende Gemeinsamkeiten, die zumindest eine Inspiration nahelegen. Und ich würde mal behaupten, dass die Erschafferin des Vampirs Raziel aus Legacy of Kain: Soul Reaver (1999) auch diesen weniger populären Roman des Mannes kannte, der 1897 den Dracula und damit den modernen Vampir-Mythos erschuf. Sein Geheimnis der See erschien fünf Jahre später, enthält keinerlei Blutsauger, aber Bram Stoker schrieb ihn ebenfalls nördlich von Aberdeen, an der Küste von Cruden Bay, unweit von mittelalterlichen Burgruinen.
Dort verbringt der englische Gentleman Archibald Hunter seine Freizeit und genießt die schroffe, verwunschen schöne Landschaft, die so oft zwischen Klippen und Nebel versinkt. Stoker beschreibt die Küste mit all ihren verwinkelten Orten fast wie ein Naturhistoriker in allen Facetten, vom Wind gepeitschten Strandgras über die tückischen Strudel im Meer, von Ebbe und Flut bis hin zu den Namen jeder einzelnen gefährlichen Klippe, an der so manches Schiff zerschellte - wer Nordseeflair sucht, wird es hier finden.
Man kann während des Lesens quasi mit Archibald an der Küste spazieren, bekommt ein Gefühl für den Ort, den Aberglauben der Einheimischen und begegnet ihm bald in Gestalt von Gormala. Diese ältere Dame lebt abseits, geistert nachts alleine an der Küste herum und erinnert mit ihrer Wahrsagerei an eine keltische Seherin. Zwar misstraut der Rationalist Archibald dieser seltsamen Frau. Doch als er das Zweite Gesicht selbst erlebt und eine geisterhafte Schar Ertrunkener an sich vorbei ziehen sieht, scheinen die beiden irgendwie verbunden. Hier ein kleiner Auszug:
"Gormala war von Natur aus eine eindrucksvolle Frau, aber nun wirkte sie unheimlich und geradezu überirdisch. Ihre große, hagere Gestalt, von der Abenddämmerung in ein sanftes, geheimnisvolles Licht getaucht, hob sich ab vom grau des dunkler werdenden Meeres, dessen Düsternis durch das leuchtende Smaragdgrün des Rasens, der sich vor uns zu dem zerklüfteten Rand der Klippe senkte, noch unterstrichen wurde."
Zunächst sorgen diese Szenen dafür, dass der Roman an eine Schauergeschichte erinnert. Aber schnell wird klar, dass es hier nicht um Horror à la Dracula geht, sondern dass Stoker vor dem Hintergrund dieser viktorianischen Epoche eher einen historisch inspirierten, überaus romantischen Krimi schreibt. Denn als Archibald von der Legende eines Goldschatzes der spanischen Armada erfährt, die mit Cruden Bay verknüpft ist, entsteht ein mysteriöses Abenteuer, in dem eine weitere Frau eine wichtige Rolle spielt.
Während Gormala die alte Zeit und das übersinnlich Unheimliche symbolisiert, begegnet Archibald in der jungen Amerikanerin Marjorie der neuen Zeit und seiner unerwarteten Liebe. Genauso akribisch wie Stoker die schottische Küste beschreibt, baut er auch diese Beziehung von der ersten Begegnung an in allen Einzelheiten vom flüchtigen Blick bis zum ersten Händchen halten auf, mitsamt der aus heutiger Sicht komplett steif anmutenden, aber gleichzeitig amüsanten und interessanten Distanz zwischen Mann und Frau.
Es geht auch um männliches Selbstverständis und die Beziehung unter Gentlemen. Zwar war selbiger genauso wie die Ehre gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon ein Auslaufmodell, aber sie prägt das Handeln von Archibald sowie anderen. Zu den markanten Szenen des Romans gehören die Gespräche, die das komplexe System der Ehre in all ihren emotionalen Facetten veranschaulichen. Natürlich literarisch idealisiert, aber nichtsdestotrotz überaus interessant. Hier ein Auszug aus den Gedanken Archibalds:
"Aus irgendeinem Grund gaben mir seine Worte das Gefühl, ein Schuft zu sein. Ich hatte nichts gegen eine fairen Kampf, noch scheute ich mich gegen ihn zu kämpfen, solange wir von Anfang wussten, warum. Doch das ging mir gegen des Strich. Der Mann hatte sich bereit erklärt, alles aufzugeben, um seinen Eid zu erfüllen und frei zu sein, und dass ich nun dazu beitrug, ihn zu ehrlosen Taten zu drängen, fühlte sich schrecklich an. Es schien mir im Großen und Ganzen auch nicht fair zu sein. Ich hatte mich stets bemüht, ehrenhaft und barmherzig zu handeln, sodass es auch für mich ein hartes Los war, am Untergang eines Mitmenschen beteiligt zu sein."
In diesen und anderen Passagen merkt man, dass es sich um etwas fernere Literatur handelt. Und man kann sich vorstellen, dass sich der Fußballer Stoker vermutlich sehr gut mit den Moralvorstellungen und dem sportiven Archibald identifizieren konnte. Der exzellente Schwimmer rettet auch recht früh eine Prinzessin in Nöten, als sie mit ihrer Gouvernante von der Flut überrascht wird. Marjorie wird später nicht etwa als naives Fräulein dargestellt, sondern als toughe und überaus mutige Frau, die als reiche Erbin direkt in den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 involviert is.

Außerdem stammt sie vom englischen Freibeuter Sir Francis Drake (1540-1596) ab, der ja im Auftrag von Königin Elizabeth u.a. gegen die Spanier kämpfte. Für alle, die das Videospiel Uncharted nicht so gut kennen, sei angemerkt, dass laut Story dessen Protagonist Nathan ebenfalls von Drake abstammte. Er verliebte sich im Videospiel in die US-Journalistin Elena Fisher, die sich ähnlich wie Marjorie sehr für historische Hintergründe interessierte und furchtlos in Gefahren stürzte. Im Laufe der Reihe heirateten die beiden bekanntlich.
Ich will die Bezüge zum Action-Adventure nicht überstrapazieren. Aber zu genau dem entwickelt sich Bram Stokers Roman, denn bald treffen die Geister der Vergangenheit auf eine gegenwärtige Gefahr, als sich Geheimagenten sowie Gangster plötzlich für Cruden Bay und Marjorie interessieren. Spätestens als Archibald zusammen mit ihr Geheimgänge und Höhlen erkundet und beide über eine Geheimschrift rätseln, die auf dem berühmten Binärcode von Francis Bacon beruht, fühlt man sich wie in einem Naughty-Dog-Abenteuer.
Mehr verrate ich an dieser Stelle nicht, aber ich kann Das Geheimnis der See nur wärmstens empfehlen. Zwar gab es auf den etwas über 500 Seiten einige langatmige Passagen und man braucht etwas Geduld, außerdem vermischt Stoker wie erwähnt Krimi, Romanze und Schauergeschichte, so dass man manchmal nicht so genau weiß, in welche Richtung es geht. Aber genau das hat mir zusammen mit den historischen Bezügen, den wunderbaren Naturschilderungen sowie dem klaren Schreibstil sehr gut gefallen. Und gerade das letzte Drittel dieses Romans ist einfach famos.
Ich habe die von Alexander Pechmann ins Deutsche übersetzte und im Oktober 2024 beim mare-Verlag erschienene Ausgabe gelesen, die als gebundenes Buch für 48 Euro in einem schönen Schuber erhältlich ist. Im Anhang gibt es Anmerkungen zu Orten und Begriffen, außerdem wird der Binärcode von Francis Bacon ausführlich vorgestellt.
PS: Amy Hennig gründete nach ihrer Karriere bei EA, Crystal Dynamics und Naughty Dog 2019 das kalifornische Spielestudio Skydance New Media bei der Filmproduktionsgesellschaft Skydance Media (Mission Impossible, Top Gun: Maverick, The Gorge). Dort ist sie als Produzentin und Autorin seit 2021 für Marvel 1943: Rise of Hydra rund um Captain America und Black Panther verantwortlich. Das Action-Adventure für Solisten wird auf Grundlage der Unreal Engine 5 entwickelt, spielt im besetzten Paris und soll im vierten Quartal 2025 erscheinen.
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