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AutorenbildJörg Luibl

Rezension: Nobody Wants To Die (PC, PS5, XBS)

Ein Mann sitzt in einer Limousine und schaut sich mit einer Lady einen Schwarzweißfilm an. Sie quatschen ein bisschen, wirken wie ein Pärchen aus den 1940er oder -50er Jahren. Aber plötzlich bekommt man Krämpfe, muss Tabletten nehmen und die Frau verschwindet. Hat man sich das nur eingebildet? Als man die Tür öffnet, blickt man in den Abgrund einer futuristischen Megacity: Zwischen Wolkenkratzern und Neonreklame schweben Autokolonnen durch die verregnete Nacht. Nur ein falscher Schritt und man würde sich in der Tiefe verlieren...




Film Noir in New York


Nobody Wants To Die inszeniert mit dieser Szene in Egosicht einen stimmungsvollen Einstieg. Die Kamera wechselt gekonnt von der intimen Atmosphäre im Auto zum weiten Winkel über den Wolkenkratzern. Und die von der Unreal Engine 5 getragene Kulisse ist vom gediegenen Interieur des Autos bis zu den riesigen Hologrammen zwischen Häuserschluchten überaus ansehnlich. Hinzu kommen Architektur und Mode, die sich vom klassischen Cyberpunk abheben. Es ist so als würde der Jugendstil in dieser Science-Fiction ein Revival feiern und die Requisite eines Mafiafilms die Figuren kleiden.


Ganz offensichtlich hat sich das Team von Critical Hit Games an Motiven des Film noir orientiert, wie etwa L.A. Confidential von 1997 oder Die schwarze Dahlie von 2006. Es gibt einen von der Vergangenheit verfolgten Detective, eine rätselhafte Lady und eine Welt mit düsteren Geheimnissen. Und diese erste Szene zeigt vielleicht die verborgene Todessehnsucht von James Kalla, der später auch schonmal auf der Motorhaube torkelnd zum Flachmann greift, hunderte Meter über den Straßen von New York des Jahres 2329. Als Spieler kann man seine Gedanken und Aktionen ein wenig lenken.


Detective James Kalla betrachtet seinen neuen Körper.

Man erfährt nicht viel über diesen Detective, aber das Wenige reicht, um einen Archetyp zu erkennen: Er hat kürzlich seinen Job bei der Polizei verloren, nimmt Tabletten gegen seine Anfälle und trinkt reichlich Scotch. Zwar wirkt er in seinen laut gesprochenen Gedanken eher tough, aber er hat einiges hinter sich und eine problematische Zukunft vor sich - und das, obwohl die Menschheit dem Traum vom ewigen Leben näher scheint. Recht schnell wird klar, dass man schon daran teilhaben konnte und sich in einem neuen Körper befindet.


Aber an den muss sich Kalla wohl erst gewöhnen. Hat er deshalb Krämpfe? In diesem 24. Jahrhundert ist es jedenfalls möglich, sein Bewusstsein in andere Körper zu übertragen und theoretisch mehrere hundert Jahre zu leben. Allerdings gehören die Körper dem Staat und man zahlt Steuern ab einem gewissen Alter. Und das soll zu Storybeginn weiter runtergesetzt werden, so dass die Regierung noch mehr Geld macht und sich junge Erwachsene noch früher verschulden müssen.


War es Selbstmord durch Erhängen? Oder doch Mord?

Auf jeden Fall ist Kalla selbst über hundert Jahre alt und sieht ganz anders aus als auf den Fotos in seinem Apartment. Außerdem dürften ihn alte Bekannte nicht mehr erkennen. Das ist allerdings nur eine von vielen Nebenwirkungen des potenziell ewigen Lebens. Alle träumen davon, aber es wird nicht allen in gleicher Art gewährt, denn so ein Abo für einen Körper ist teuer. Und wenn das Gehirn vollkommen zerstört wird, ist auch für die mehrfach Körper wechselnde High-Society endgültig Game Over. In dieser Nacht bekommt Kalla dann von seinem Ex-Chef einen Auftrag, der nach einem Verbrechen dieser Art riecht.


Dialoge mit Entscheidungen


Ein sehr einflussreicher Politiker, der an den umstrittenen Gesetzen der Körpersteuer schraubte, wurde in seinem Luxusapartment tot aufgefunden. Kalla soll sich das mal ansehen, vor allem dessen Gehirn, ohne dabei unnötiges Aufsehen zu erregen. Allerdings muss der erfahrene Detective für diese heikle Mission eine Partnerin namens Sara über Funk akzeptieren, die quasi als Ratgeberin, Computerexpertin und vermutlich Aufpasserin für seinen Chef agiert. Wie verhält man sich zur ihr?


Interessant ist, dass man in den Dialogen entscheiden kann, ob man sie z.B. schroff abweist, höflich die Distanz wahrt oder flirtet. Und wie einige andere Entscheidungen wirkt sich dieses Verhalten entweder auf kommende Antwortmöglichkeiten oder die Story aus, was sofort angezeigt wird. Man hat z.B. manchmal die Wahl, ob man Scotch trinkt oder einen Tatort aufräumt. Und in manchen Situationen läuft die Zeit ab, so dass man zügiger wählen muss, sonst gibt man eine Standardantwort.


Cyberpunk-Flair zwischen Wolkenkratzern.

Das erinnert entfernt an Alpha Protocol von Obsidian Entertainment oder Heavy Rain von Quantic Dream aus dem Jahr 2010, zumal es mehrere Wege ins Finale gibt. Die Dialoge sind zunächst kurzweilig und werden auf Englisch mit deutschen Untertiteln schauspielerisch überzeugend gesprochen. Allerdings können sich sowohl die Monologe von James als auch die Gespräche irgendwann unnötig in die Länge ziehen und wirken fast gestreckt, so dass man endlich weiterspielen will. Apropos: Was kann man eigentlich machen?


Man kann zwar sein Apartment samt Feuerleiter und Außenbereich in Egosicht erkunden, aber nicht frei durch sein Viertel wandern oder gar durch New York cruisen. Das Spiel setzt auf sehr kleine, überaus fein illustrierte Gebiete und Räume, in denen es einiges an Postern, Gegenständen & Co zu entdecken gibt. Man kann so manches in die Hand nehmen sowie drehen und wenden, um vielleicht etwas auf der Rückseite zu finden. Nicht alles ist relevant, aber damit gewinnt die Spielwelt einige Facetten und die Recherche im Sinne eines detektivischen Adventures beginnt.


Lineare Rekonstruktion statt Ermittlung


Der Kern der Spielmechanik besteht in der Ermittlung an Tatorten, für die man die Zeit zurückspulen und diverse Gadgets wie UV-Licht oder Röntgensicht einsetzen kann. Als man im Apartment des Politikers ankommt, hängt er z.B. an einem Baum. Was ist hier passiert? Wie kam er dorthin und war es Selbstmord oder Mord? Jetzt gilt es die Tat zu rekonstruieren, während man Hinweise von Sara oder Ansagen vom Chef bekommt. So entsteht eine recht lebendige, aber nicht besonders offene, sondern recht geführte und von immer gleichen Aktionen unterbrochene Recherche - und das kann überraschend schnell langweilen. Zwar kann man sich frei in Egosicht umsehen, die Schauplätze haben teils mehrere Etagen und die Auswahl an Werkzeugen suggeriert eine Vielfalt an Möglichkeiten, die zunächst verwirren kann.


Man kann Gegenstände drehen, wenden und Notizen finden.

Doch letztlich folgt man einer Struktur und Anweisungen. So aktiviert man gekennzeichnete Punkte in einem simplen Minispiel mit den Schultertasten, die man abwechselnd oder gleichzeitig drücken muss, um kleine Szenen der Vergangenheit sichtbar zu machen, die man dann vor- und zurückspulen darf. So sieht man wie Leute durch Glas stürzen, von Kugeln durchsiebt oder von Explosionen durch die Luft geschleudert werden. An gold markierten Stellen entstehen kreisförmige Kuppeln, in denen man Hinweise finden kann, um das Bild weiter zu vervollständigen. Manchmal folgt man Blutspuren im blauen UV-Licht, Schusslinien von Projektilen zum Schützen oder röntgt einen Körper oder Kopf, um etwas über die Todesursache zu erfahren.


Das klingt allerdings anspruchvoller und kombinatorischer als es ist, und die Freude der eigenen Entdeckung erlebt man dabei nicht. Denn zum einen wird man ständig auf Wichtiges hingewiesen, so dass Sara regelrecht nerven kann, und zum anderen entwickelt man bald eine Absuch- und Aktivierroutine, ohne selbst groß nachdenken zu müssen, zumal man eigentlich keine Fehler machen kann. Man fühlt sich bald mehr wie ein Video-Cutter, der sich von Szene A zu Szene B und Szene C vorarbeiten muss, weniger wie ein Ermittler, der eigenständig denkt und seine Schlussfolgerungen zieht. Hier hätte ich mir kreativere Ansätze und mehr logische Verknüpfungen gewünscht.


Statik in der Recherche


Zumal man manchmal an die Statik alter Adventures erinnert wird, wenn man bestimmte Aktionen erst ausführen darf, wenn die Regie sie später aktiviert. Man soll z.B. in einer Mission nach einer Schießerei alle Leichen fotografieren, aber bei einem Schützen mit offensichtlichem Bezug darf man erst später weiter machen. Anstatt wirklich selbst alles vor Ort auf sich wirken zu lassen, folgt man also eher den Hinweisen der Benutzeroberfläche und aktiviert Gadgets nach Ansage, bis man genug Hinweise hat.


Man kann die Zeit zurückspulen und Ereignisse rekonstruieren.

Interessant ist, dass man später auch den Boden seines Apartments in ein Spielfeld für seine Ermittlungen verwandeln kann. Dann wird der Teppich zur Seite gerollt, links warten die bisher gesammelten Erkenntnisse wie Figuren in einem Brettspiel und oben die offenen Fragen. Jetzt muss man Erstere und Letztere passend verbinden, während Sara ab und zu Feedback gibt. Hier die korrekten Verbindungen herzustellen ist zwar anspruchsvoller als an der Pinnwand von Alan Wake 2, aber das ist auch kein großes Kunststück.


Wohin führen die Spuren?

Letztlich verschiebt man seine Indizien so lange, bis ein Punkt mit einem grünen Pfeil abgehakt wird und es weitergehen kann. Dieses Puzzle mit Brettspielflair ist eine nette Idee, aber die Anziehungskraft entsteht weniger durch Erkundung und Spielmechanik, sondern eher über die Kulisse und Erzählung, die ein stimmungsvolles Szenario aufbaut, das neben den Morden von den Geheimnissen zwischen den Charakteren getragen wird.


Mehrere Enden


Es gelingt der Story durchaus, eine futuristische Dystopie zu zeichnen, die mit ihrer Gesellschaftskritik gar nicht so weit von den Fragen und Problemen unserer Realität entfernt ist. Es formiert sich bereits ein Widerstand gegen den Staat. Spätestens wenn sich die Stimme eines Fremden meldet, der die eigene Moral hinterfragt, will man mehr über die Hintergründe der Morde erfahren. Man muss folgenschwere Entscheidungen treffen, wenn es um Selbstjustiz im Namen der Gerechtigkeit geht und steuert auf eines von vier Enden zu, darunter auch tragische, so dass sich ein erneutes Spielen aus rein erzählerischer Sicht anbieten kann.


Hat man alle Hinweise, muss man sie mit offenen Fragen kombinieren.

Einige der Motive und Konflikte erinnern an die TV-Serie Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm, die von 2018 bis 2020 in zwei Staffeln und als Anime-Film bei Netflix erschien. Die beruht wiederum auf dem gleichnamigen Roman des britischen Schriftstellers Richard Morgan, für den er 2002 mit dem Philip K. Dick Award ausgezeichnet wurde und den er als gefeierte Trilogie fortführte. Übrigens schrieb Morgan auch die Story für Crysis 2 von 2011.


FAZIT


Blade Runner lässt zunächst grüßen, wenn man mit Detective James Karra im New York des 24. Jahrhunderts unterwegs ist. Charaktere und Geschichte bedienen sich bei bekannten Motiven des Film noir, man verspürt einen Hauch von Mafia mit Limousinen, Killern und Tommy Guns, trifft auf eine ansehnliche Mischung aus elegantem Jugendstil und monumental-futuristischer Architektur. Zwar gibt es nur begrenzte Areale, aber hinzu kommen interessante erzählerische Aspekte rund um die Nachteile des ewigen Lebens und die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. Und nach einem starken Einstieg hat man richtig Lust auf diese Welt. Aber dann verfliegt die Faszination, sobald man aktiv in einer Mordserie samt Zeitmanipulation ermittelt. Denn trotz interessanter Gadgets absolviert man eine Routine des Abklapperns markierter Punkte, fühlt sich fast wie ein Video-Cutter in einem endlosen Tutorial einer Polizeischule. Die starre Spielmechanik animiert leider nicht zur freien Recherche, sondern führt einen mit simplen Wiederholungen zu eng an der Leine. Sobald die mal locker lässt, sobald man zum Nachdenken und Grübeln animiert wird, macht dieses Adventure wieder Laune. Zumal sich Antworten in Dialogen auf den Storyverlauf auswirken, so dass man die Rolle des Antihelden ein wenig formen und mehrere Enden samt Tragödie erleben kann. Ich wurde über fünf bis sechs Stunden zwar nicht gut, aber noch solide unterhalten. Und trotz meiner Kritik an der Spielmechanik würde ich sagen, dass Nobody Wants To Die unterm Strich ein gelungenes Debüt ist, auf dem Critical Hit Games aufbauen kann.


(Bilder: Noboy Wants To Die, PS5, eigene Aufnahmen)

4 comentários


Jannik
Jannik
26 de jul.

Danke für deine Rezension. Finde es trotzdem irgendwie spannend und werde wohl mal im Sale zuschlagen. Die Wunschliste im PSN ist für sowas ja ganz nützlich :)

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Pillenpepi
01 de ago.
Respondendo a

Absolut. Ein Spiel für nen 5er...

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bronto
bronto
24 de jul.

Jörg, du kannst Gedanken lesen! Habs bei Steam gesehen und war von der Optik gleich angetan, wurde aber dann von Kundenrezensionen abgeschreckt (zu schienenhaft, Cyberpunk im Detail zu wenig glaubwürdig usw.). War mir nicht sicher ob ich zugreifen soll und habs mal gewunschlistet. Aber nach deiner Beurteilung werde ich dann wohl die Finger lassen 🤨


Danke jedenfalls für deinen Instinkttest!


„…ein erneutes Durchspielen aus rein erzählerischer Sicht anbieten kann“ -> da musste ich schmunzeln über diese diplomatische Ausdrucksweise

Editado
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Pillenpepi
24 de jul.

Ui, das klingt hart, obwohl das Spiel nach Heavy Rain und Cyberpunk riecht.

Ich vertraue dir mal (wie immer), und lasse es liegen.

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