Bald erscheint Baldur's Gate 3. Ich hab richtig Lust darauf, werde allerdings nicht am 3. August auf dem Rechner loslegen, sondern erst am 6. September auf der PlayStation 5. Würde man die Zeit zwanzig Jahre zurückspulen, würde mein jüngeres Ich verständnislos den Kopf schütteln und fragen: Hey, was ist denn mit dir los? Wie kann man so lange warten, wenn die Schwertküste ruft? Aber zum einen braucht mein älteres Ich dringend eine Sommerpause. Und zum anderen hat mich das, was ich vor drei Jahren spielen konnte, zwar gut unterhalten, aber noch nicht begeistert.
Der Einstieg war imposant, fast filmreif inszeniert. Auch die Rundentaktik in teilweise herrlich vertikalen Gebieten ließ keine Wünsche offen. Man war spielmechanisch frei und konnte auch abseits kämpferischer Lösungen experimentieren. Und dann waren da die aktiven Würfelproben, die mir sofort gefielen. Aber über diese ersten drei Stunden schlich sich hinsichtlich der Atmosphäre eine gewisse Skepsis ein, denn sie unterschied sich von jenem epischem Flair, das ich von BioWare kannte. Manches wirkte mir zu kitschig, manches albern oder übertrieben, so dass das Abenteuer zwischen ernstem Drama und Comedy mit Superheldenflair zu schwanken schien. Ich schrieb in meiner Vorschau, dass es sich eher wie ein Dungeons & Divinity statt Dungeons & Dragons anfühlen würde.
Aber wie gesagt: Das ist drei lange Jahre her. Ich hab damals nicht eine Siedlung, geschweige denn eine Stadt gesehen. Ich bin keinerlei Fraktion wie etwa den Harfnern begegnet, es gab noch keine harten moralischen Entscheidungen in der Gruppe. Sprich: Ich habe lediglich an der Oberfläche gekratzt. Die wichtige Frage ist, wie sich die finale Version entwickelt hat. Und die Larian Studios, die mit Divinity: Original Sin 2 (2017) ihre Rollenspiel-Qualitäten demonstriert haben, waren seitdem sehr, sehr fleißig. Das mussten sie auch sein, denn sie werden an einem legendären Spiel namens Baldur's Gate 2 gemessen. Sie treten also in verdammt große Fußstapfen.
Und auf dem Papier scheinen sie diese nicht nur füllen, sondern regelrecht überfüllen zu wollen: Mehr als zwei Millionen Wörter an Dialog, 170 Stunden Zwischensequenzen, an die 600 Zauber und tausende Charaktere dürften alle Rekorde des Genres brechen. Selbst The Witcher 3 oder The Elder Scrolls V: Skyrim können da nicht mithalten. Und wer kürzlich die belebte Stadt Baldur's Gate gesehen hat, der konnte nur staunen, denn sie stellt vermutlich alle bisherigen Fantasy-Metropolen in den Schatten, darunter das vorbildliche Novigrad des Hexers.
Aber wie wird sich das Spiel, wie wird sich die Welt anfühlen? Wird es auch ein nach Hause kommen für alle jene, die so viele Erinnerungen mit den Vorgängern verbinden? Oder die Pen&Paper in den Vergessenen Welten gespielt haben?
Wenn ich den Namen Baldur's Gate höre, sehe ich jedenfalls sofort Szenen vergangener Abenteuer vor mir. Ich denke an unheimlich gemütliche Stunden am PC, an tragische und heroische Momente. Als Baldur's Gate im Dezember 1998 erschien, fegte es ja mit einem eleganten isometrischen Wisch die bis dahin etablierten Darstellungsformen für Rollenspiele hinweg. Und weil mich diese Art von Dungeons & Dragons auch auf dem Weg in die Spielepresse begleitete, möchte ich ein wenig auf diese Zeit zurückblicken.
Szenen aus Icewind Dale
Als ich mich im Sommer 2000 als Journalist bei diversen Verlagen bewarb, lag als Arbeitsprobe eine Besprechung von Icewind Dale bei. Das war gerade erst im Mai auf dem PC erschienen. Ich hatte den grandiosen Soundtrack von Jeremy Soule quasi noch im Ohr und das Abenteuer frisch beendet. Wenn ich mich recht erinnere, begann ich die Rezension mit einem szenischen Einstieg. Meine Gruppe war auf dem Weg von Osthafen nach Kuldahar, als plötzlich Goblins aus dem Gebüsch sprangen und das Orchester so richtig erwachte. Dann tanzten der Kriegshammer, Melfs Säurepfeile zischten und die taktische Grübelei nahm ihren Lauf.
Ich wollte in dem Text irgendwie versuchen, diese heroische Stimmung einzufangen, um dann direkt die Kämpfe und das Spielsystem zu beschreiben. Icewind Dale hatte nicht diesen biografischen Fokus auf einen Helden, was mich angenehm an all die Söldnergruppen der Pionierzeit erinnerte, als man in Wizardry oder Dungeon Master das labyrinthische Dunkel erkundete. Man hatte sechs selbst erstellte Helden mit coolen Fähigkeiten in seiner Party und die Rundentaktik wurde auf Grundlage der 2. Edition von Advanced Dungeons & Dragons (AD&D) inszeniert. Icewind Dale wurde ja von den Black Isle Studios entwickelt, die heute vor allem für das erste Fallout und natürlich Planescape Torment bekannt sind.
Sie sollten später noch einen Nachfolger herausbringen, bevor der Mutterkonzern Interplay in Schwierigkeiten geriet, man die D&D-Lizenz verlor und das Studio im Jahr 2003 geschlossen wurde. Was vielleicht nicht jeder weiß: Zu dieser Zeit arbeitete Black Isle schon seit zwei Jahren an einem Baldur's Gate 3: The Black Hound, Codename: Project Jefferson, das natürlich eingestellt wurde. Viele ehemalige Mitarbeiter heuerten dann bekanntlich bei Obsidian an. Zum Team gehörte neben Chris Avellone u.a. Josh Sawyer, der dort Pillars of Eternity und kürzlich das historische Krimi-Adventure Pentiment designte. Vermutlich ist er gerade sehr beschäftigt mit Avowed, einem Rollenspiel, das 2024 auf dem PC und XBS erneut in die Welt von Pillars entführen will. Ich bin sehr gespannt, ob Obsidian damit auf Unreal Engine 5 ein großes Epos gelingt.
Die isometrische Welle
Aber zurück in die Zeit der Sprites, zurück zu Icewind Dale: Dafür lizenzierten Interplay und die Black Isle Studios die damals sehr fortschrittliche Infinity-Engine von BioWare, die nach der Ära der klassischen Goldbox-Spiele ein neues technisches Zeitalter einläutete. Als sie das erste Mal in Baldur's Gate zum Einsatz kam, erlebten Computer-Rollenspiele auf Grundlage von D&D so etwas wie eine Renaissance. Denn es gab auch eine gewisse Müdigkeit, digital und übrigens auch am Tisch, was das von Gary Gygax entwickelte System und die von Ed Greenwood konzipierten Vergessenen Welten betraf. In den 80ern war D&D die Nummer eins, doch Mitte bis Ende der 90er gab es schon sehr viele Alternativen.
Aber plötzlich war man am Bildschirm wieder nah dran am Pen&Paper-Erlebnis. Man fühlte sich fast so wie ein Spielleiter, der sich über ein Diorama mit lebendigen Figuren beugt. Das kam nicht von ungefähr: Die Entwickler von BioWare spielten selbst intensiv D&D und konzentrierten sich im Gegensatz zu vielen Dungeon-Crawlern oder SSI-Titeln früherer Jahre auf eine epische Story mit Dialogen, Entscheidungen sowie lebendige Party-Interaktion. Endlich gab es also mehr als endlose Kämpfe und Ausrüstungs-Management. Charaktere wie Waldläufer Minsc und sein Hamster Boo wuchsen einem regelrecht ans Herz.
Man erlebte mit ihnen Abenteuer in schräger Dreiviertelperspektive, mit vorgerenderten 2D-Hintergründen und spritebasierten Figuren, die in pausierbarer Echtzeit durch die Landschaft spazierten; sogar Formationen wie in Strategiespielen waren möglich. All das wirkte sehr modern und steuerte sich, bis auf einige Wegfindungstücken, überraschend flüssig. Dieses erste Baldur's Gate hatte jedenfalls schnell einen Ehrenplatz in meinem Regal. Alles, was sich Rollenspieler nannte, musste es gespielt haben. Aber als Arbeitsprobe für den Job kam es im Jahr 2000 trotzdem nicht in Frage.
Die meisten Verlage forderten einen Text zu einem aktuellen Spiel. Ich entschied mich also für Icewind Dale, zumal ich ohnehin knietief in den Vergessenen Welten steckte. Die Romane von R.A. Salvatore hab ich seit Anfang der 90er verschlungen, Drizzt, Wulfgar und Bruenor Heldenhammer waren fast wie alte Kumpel, die große Faltkarte der Kampagnenbox hing an meiner Wand. Wir spielten so einige Abenteuer in Faerun, von den Anfängen im Dolchtal bis hin zu den keltisch inspirierten Mondscheininseln. Und Elminster hatte als weiser Zauberer und Reiseführer fast den Rang eines Gandalf inne. Sprich: Rollenspiele waren meine Leidenschaft.
Das Jahr der Rollenspiele
Nahezu alles drehte sich gerade in den 90ern um dieses wunderbare Hobby. Aber um ehrlich zu sein, war es auch viel leichter über Icewind Dale zu schreiben als etwa über das erzählerisch komplexe, philosophisch tiefe Planescape Torment. Das erschien ja kurz vorher, im Januar 2000 auch auf Deutsch. Mir gefiel es außerordentlich gut, aber hier schieden sich damals schon angesichts der umfangreichen Lektüre die Geister. Aber im Gegensatz dazu reduzierten die Black Isle Studios sowohl die Story als auch das Spieldesign auf das Wesentliche. Icewind Dale konnte atmosphärisch überzeugen, hatte einige tolle Dungeons, war aber sehr linear, unheimlich kampflastig, mitunter zäh und bot kaum Party-Interaktion.
Letztlich war es nicht mehr und nicht weniger als ein guter Lückenfüller für das ganz große Abenteuer von BioWare, auf das bereits die halbe Welt wartete. Und das sollte tatsächlich nur vier Monate später, am 24. September erscheinen: Baldur's Gate 2: Shadows of Amn. Aber bevor ich darauf eingehe, möchte ich nochmal kurz innehalten, denn dieses zweite Millennium hatte es einfach in sich. Das Jahr 2000 war für Rollenspieler ein unfassbar starkes, sowohl auf dem PC als auch der Konsole. Und man hatte das Gefühl, dass sich das Genre nach den großen Aufspaltungen der Pionierzeit nochmal neu entfaltet, mit mehreren westlichen und japanischen Zweigen.
Man darf ja nicht vergessen, dass neben Might & Magic 8, Wizards & Warriors oder Diablo II und Nox auch noch Dragon Quest VII, Final Fantasy X, Chrono Cross sowie Skies of Arcadia erschienen. Außerdem war da ein Vampire: Die Maskerade – Redemption, also das erste Computerrollenspiel auf Grundlage des damals überaus populären Pen&Papers von White Wolf. Dann muss man Phantasy Star Online für Dreamcast erwähnen, weil es das erste Online-Rollenspiel für eine Konsole war. Und last but not least erschien im Mai 2000 auch noch EverQuest in Europa.
Illustrationen als Weltenschöpfer
Kein Geringerer als der legendäre Illustrator Keith Parkinson (1958-2005), der die visuelle Ästhetik der Forgotten Realms seit ihrem Debüt im Jahr 1987 mit wunderbaren Covern und Artworks prägte, war übrigens an diesem Online-Rollenspiel beteiligt. Die Kampagnen-Box zu den Vergessenen Welten, die einen wilden Reiter mit Speer zeigt, oder seine Szenen von Orks und Trollen, die als Trupp mit bunten Wimpeln durch den Schnee ziehen, prägten auch meine Vorstellung von Faerun. Die näherte sich zumindest in der Wildnis eher einem Fantasy-Mittelalter als der Renaissance an, die in Baldur's Gate 3 nicht nur hinsichtlich der Mode viel spürbarer wird.
Es gab schon immer große stilistische Unterschiede, selbst innerhalb der High-Fantasy, zwischen der historisch-epischen Weltschöpfung eines Tolkien und der bunten Dungeonaction eines Gary Gygax, die den Spaß am Spiel und den Fortschritt des Charakters pflegte. Aber die Forgotten Realms von Ed Greenwood schürften doch tiefer, versuchten sich an einem mythologischen Unterbau sowie gewachsener Geschichte und boten einiges an Interpretationsraum. Sie näherten sich nie der Low-Fantasy eines Harnmaster, in der es nicht so vor Magie und Elfen wimmelte und man froh sein konnte, wenn man mal ein gutes Schwert besaß. Aber gerade in den Illustrationen von Parkinson näherte sich die Welt von AD&D auch dem gediegen Epischen eines Fantasy-Mittelalters. Plötzlich hatte man in Fantasyshops nicht nur Rollenspielsysteme, sondern auch zig Atmosphären zur Auswahl.
Vom Rollenspieler zum Spieletester
Das Jahr 2000 schwappte über vor Abenteuern, analog und digital. Für die folgenden Jahre waren sogar schon weitere angekündigt. Außerdem habe ich in dieser Zeit erste hitzige Diskussionen darüber erlebt, auch durch den Erfolg und den Ansatz von Diablo befeuert, was eigentlich ein echtes Rollenspiel ist. Und welche Art von Spieletester suchten die Verlage damals? Natürlich Rollenspieler. Das war also eine richtig gute Gelegenheit für mich, obwohl ich die Branche nur nebenbei im Visier hatte. Meine Arbeitsprobe kam dann allerdings überraschend gut an, ich wurde sogar zu drei Gesprächen eingeladen und war regelrecht euphorisch, zumal ich als Vater dringend einen Job brauchte. Ich hatte gerade meinen Master in der Tasche, zwei Praktika in Druckerei und Verlag vorzuweisen, steckte mitten in einer Weiterbildung zum Online-Journalisten, aber konnte mir natürlich keine Wohnung leisten.
Dann zeigte sich in den Gesprächen, dass man vor allem günstige Quereinsteiger suchte und sich so viel für meinen Studienabschluss interessierte wie ich mich für Rennspiele oder rhythmische Sportgymnastik. Ich war da vielleicht naiv, aber das hat mich doch schockiert, dass man selbst nach Abitur, Bundeswehr, Praktika und abgeschlossenem Studium immer noch behandelt wird wie jemand, der nichts vorzuweisen hat. Warum hat man mich überhaupt zu Gesprächen eingeladen? Da war ich mir gar nicht mehr sicher, ob dieser Job wirklich das Richtige ist.
Wir rechneten also immer wieder durch, ob wir von diesen Gehältern als Familie leben könnten, schlackerten angesichts der asozialen Mietpreise im Umkreis von München mit den Ohren und überlegten, wie hoch der Kredit sein müsste, den wir für den Umzug aufnehmen müssten. Es ging ein paar Wochen hin und her, zwischen Nürnberg und München, bis ich mich schließlich nicht für ein Printmagazin, sondern für dieses unbekannte Online-Magazin namens 4Players entschied. Da wirkte zumindest das Projekt frisch, der Ansatz nerdig genug und es gab im Vergleich sogar etwas mehr Gehalt.
Was allerdings nicht unbedeutend verfing: Im Gespräch hieß es in einem Nebensatz, dass man sich auch einfach mal eine Woche mit einem Spiel verbarrikadieren könnte. Als man anmerkte, dass man mit mir eine Redaktion aufbauen möchte, bessere Texte anbieten und dringend jemanden für das kommende Baldur's Gate 2 sucht, unterschrieb ich schließlich den Arbeitsvertrag zum 1. November 2000. Der Job begann dann inoffiziell schon fünf Wochen früher, unbezahlt in Home Office. Denn als die englische Version erschien, fragte man mich, ob ich nicht interessiert sei. Ich könnte das Spiel natürlich behalten.
Tja, was antwortet der Rollenspielfreak? Also schrieb ich meine erste Rezension als Spiele-Journalist, die dann zwei Wochen vor meinem Arbeitsantritt am 20. Oktober 2000 veröffentlicht wurde. Damals gab es noch keine Vorabversionen für Online-Magazine, weil die meisten von Publishern überhaupt nicht ernst genommen wurden. Es gab eine regelrechte Zweiklassen-Gesellschaft zwischen etablierter Printpresse und aufstrebenden Onlinern. Mittlerweile sind Erstere fast ausgestorben, Online ist zwar etabliert, aber in Influencer wird investiert und sie bestimmen auch weitgehend die Meinungsbildung.
Das große Epos von BioWare
Aber zurück zu Baldur's Gate 2: Ich spielte seit der Veröffentlichung am 24. September quasi Tag und Nacht. Ich ahnte nicht, dass da tatsächlich mehr Wörter an Text und Dialogen warteten als in Planescape Torment. Und ich erinnere mich noch an die Gänsehaut beim Spielstart, sehe das Menü direkt vor mir. Natürlich konnte ich mich zunächst nicht entscheiden, wie ich beginnen sollte. Entweder importierte man seinen Helden aus dem Vorgänger oder fertigte aus elf Klassen einen neuen Charakter an, der auf Stufe 7 startete. Der konnte fast drei Millionen Erfahrungspunkte sammeln, was ihn in der D&D-Welt zu einem Halbgott machen würde. In Baldur's Gate 3 gibt es übrigens zwölf Haupt- und 46 Unterklassen. Auch da werde ich wohl eine Woche brauchen, um mich zu entscheiden.
In diesem Baldur's Gate 2 zu versinken war auch deshalb so leicht, weil BioWare sofort eine düstere und überraschend bizarre Pforte öffnete, die mich angenehm an Planescape Torment erinnerte. Es gibt ja diese Empfehlung aus dem Filmbereich, man solle mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. Zwar bebte nichts an der Schwertküste, aber man fühlte sich sofort emotional mittendrin: Man startete ja eingesperrt in einem Kerker, von Schreien und Folterwerkzeug umgeben, ohne genau zu wissen, was da eigentlich vor sich geht. Das war kein Vergleich zum Einstieg des ersten Baldur's Gate, mit der fast einschläfernd gemütlichen Suche nach Gorion und diesem Baukastenflair, über das ich heute schmunzeln muss.
Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die Wahrnehmung innerhalb der digitalen Unterhaltung verschieben kann, wie einiges verblasst und sich anderes bis heute in der Faszination hält. Als 2019 die Baldur's Gate and Baldur's Gate 2 Enhanced Editions für Konsolen erschienen, denen leider der Glanz echter Remakes, wie etwa jenem zum aktuellen System Shock, fehlte, war ich doch ernüchtert, nicht nur angesichts der spröden Steuerung, sondern auch von der Regie, vor allem vom ersten Teil. Man merkt ihm mit der Distanz einfach das Modulare an, das natürlich auch zum Handwerk des Spieldesigners sowie Spielleiters im Pen&Paper-Bereich gehört. Und BioWare sollte daraus 2002, im Rahmen von Neverwinter Nights, einen der ersten Abenteuer-Editoren in Form des Aurora Toolset anbieten.
Auch Baldur's Gate 2 wollte ich übrigens auf der Konsole nicht nochmal spielen, obwohl es deutlich besser gealtert ist. BioWare veränderte die Art der Darstellung und die Spielmechanik gar nicht großartig für den Nachfolger, aber die Kanadier präsentierten im zweiten Teil eine verbesserte Infinity Engine und zeigten, wie erwähnt, eine ganz andere Regie. Die konnte einen von Beginn an packen, was übrigens auch die Larian Studios in Baldur's Gate 3 beherzigen, das einen tollen Einstieg hat.
Der Einstieg von Baldur's Gate 3
Ein Flaggschiff in Schneckenform segelt majestätisch durch die Luft, ein so genannter Nautiloid. An Bord befindet sich ein Mind Flayer, den man auch Illithid oder Gedankenschinder nennt - mancher erinnert sich vielleicht an den gleichnamigen Boss aus der Netflix-Serie Stranger Things. Das sind überaus intelligente, psionisch begabte Zwitter, die durch Welten reisen und aufgrund ihrer Tentakelfratzen an Cthulhu-Monster erinnern. Das kommt nicht von ungefähr: Gary Gygax konzipierte die Mind Flayer nach dem Cover des Romans "The Burrowers Beneath" von Brian Lumley, der das Universum von H.P. Lovecraft mit seinen Geschichten erweiterte.
Und der Mind Flayer sorgt nicht nur für Terror aus der Luft, sondern auch an Bord: Er treibt seinen gefesselten Opfern fiese Würmer mit messerscharfem Piranhamaul durchs Auge. Tja, wie es bei Kaulquappen so üblich ist, wollen die noch wachsen. Er will die Gefangenen nicht in erster Linie quälen, sondern versklaven. In der Welt von Dungeons & Dragons sorgt dieser Eingriff für mehr als eine Gehirnwäsche - es geht um eine Transformation: So wird aus einem Elf, Gnoll oder Ork irgendwann auch ein Illithid, in seltenen Fällen sogar ein höherer Ulitharid. Aus Tiefengnomen, Betrachtern oder gar Drachen können ganz andere Kreaturen entstehen.
Aber es gibt eine Überraschung in luftiger Höhe. Denn scheinbar hat jemand etwas gegen diese sadistischen Experimente: Plötzlich greifen rote Drachen das Flaggschiff von mehreren Seiten an, speien Feuer und bringen es schließlich zum Absturz. Als das brennende Ungetüm gen Boden rast, sorgt das bei den Bewohnern von Baldur's Gate natürlich für Panik: Erstens sind diese Nautiloide extrem selten und gelten auch an der Schwertküste als fliegende Weltwunder. Zweitens sind sie etwa 35 Tonnen schwer, mehrere Hausetagen hoch und würden beim Aufprall einen Krater mit hunderten Toten hinterlassen. Aber die Stadt bleibt um Haaresbreite verschont, denn der Nautiloid kann noch weiter nach Osten schlingern, bevor er aus der Sicht verschwindet - und das Spiel irgendwo in der Wildnis beginnt.
Damit kann der Einstieg von Baldur's Gate 2 nicht mithalten, aber er gehörte anno 2000 zum Besten, was das Genre zu bieten hatte. Dass BioWare aufgrund der Erfahrung mit dem ersten Teil reifer inszenieren würde, war vielleicht zu erwarten. Aber dass sie sich erzählerisch und dramaturgisch derart steigern konnten, war schon verblüffend. Das fühlte sich damals an wie ein spielbarer Fantasyroman. Kaum war man aus dem bizarren Kerker geflohen, entfaltete sich eine Welt mit bevölkerten Städten, vielen geheimen Pfaden, überraschenden Wendungen, taktischen Kämpfen, fast 300 Zaubern, tollen Nebencharakteren und lebendiger Party-Interaktion. Die sollte BioWare später immer weiter verfeinern, bis hin zum großartigen Star Wars: Knights of the Old Republic, das 2003 erschien und die Dialoge noch stärker je nach Charakter und Entscheidungen variierte.
Baldur's Gate 2 war ein epischer Meilenstein innerhalb des Genres. Es bot eine angenehm reaktive und verzwickte Geschichte, bei der man immer wieder ins Grübeln geriet, wem man vertrauen kann, welchem Rat man folgen soll und natürlich wie die Gruppe am besten zusammengestellt wird. Man war auch deshalb sofort mittendrin, weil die Erzählung direkt an die Ereignisse des Vorgängers anknüpfte und alte Bekannte für Heimatgefühle sorgten. Waldläufer Minsc und sein Hamster Boo waren ebenso dabei wie die scharfzüngige Druidin Jaheira und natürlich die Diebin Imoen, der man die Flucht aus dem Kerker verdankte.
Danach war ich jedenfalls für Wochen beschäftigt. Ich sollte über 100 Stunden in dieses Spiel investieren, das in der für ihre Intrigen berüchtigten Stadt Athkatla begann, die als Händler- und Meuchlerparadies galt. Bestehend aus acht Stadtteilen ist sie übrigens noch größer als ihre nördliche Partnerstadt Baldur's Gate. Falls die Larian Studios einen vierten Teil machen wollen, würden sich also noch weitere Metropolen anbieten. Damals sorgten hunderte von NPCs für eine lebendige Atmosphäre, die auch von all den Geräuschen und den simulierten Milieus lebte. Natürlich klingt das faszinierender als es heute wirkt, zumal es eher um die atmosphärische Illusion als die Simulation von Alltag ging. Aber was Städte in Rollenspielen betrifft, war Baldur's Gate 2 ein großer Schritt nach vorne. Und auch was Texte angeht, denn man zählte über eine Million, mit den Erweiterungen sogar an die 1,65 Millionen.
Ausblick
Auch in dieser Hinsicht werden die Larian Studios die Tradition übrigens fortführen. Denn die Spielszenen aus Baldur's Gate sind hinsichtlich der Fülle an Figuren und des dargestellten Milieus beeindruckend. Wenn ich mir das anschaue und die Belgier beim Wort nehme, dass man wirklich jeden dieser Bewohner ansprechen kann, dass sie alle ihre eigenen Tagesabläufe haben und Beschäftigungen nachgehen, dann freue ich mich sehr auf die ersten Spaziergänge. Auch in The Witcher 3 waren es manchmal diese kleinen Dinge in Novigrad, abseits der Quests, die mich faszinieren konnten. Ach so, was die Anzahl der Wörter betrifft, wird man tatsächlich die zwei Millionen-Marke knacken. Zum Vergleich: Tolkiens Der Herr der Ringe kommt inkl. Der Hobbit auf knapp 570.000, George R.R. Martins Lied von Eis und Feuer auf knapp 1,7 Millionen Wörter in englischer Sprache. Und wer weiß, vielleicht entfaltet dieses Baldur's Gate 3 abseits der Superlative ja auch diese besondere Sogwirkung, die legendäre Rollenspiele auszeichnet.
Natürlich wird es hier eine Rezension geben, ich kann nur noch nicht einschätzen in welcher Form und zu welcher Zeit. Vielleicht wird es ein Tagebuch, vielleicht ähnlich wie bei Elden Ring eine mehrteilige Besprechung oder doch eine Analyse am Stück. Mal abwarten, ab wann ich überhaupt loslegen kann.
Danke für diese Vertiefung, sehr spannendes Thema! Die Welt aus Baldurs Gate hat mich schon immer fasziniert. Den ersten Teil habe ich mit grosser Begeisterung gespielt. Der 2. Teil schlummert digital in meiner GOG Bibliothek. Dafür bin ich aktuell noch in der Welt von Icewind Dale unterwegs. Irgendwann in 10 Jahren werde ich es dann schaffen mal in Baldurs Gate 3 reinzuspielen.
Auf deine Rezension der PS5 Version bin ich gespannt. Ich hatte Divinity: Original Sin auf der PS4 gespielt und meine Erwartungen an Larian sind hoch. Besonders weil solche Spiele eigentlich auf den PC gehören. Aber bei Divinity hatten sie das gut auf die Konsolen gebracht.
Diesen Moment, BG2 das erste Mal zu starten, habe ich auch nie vergessen. Ich habe das Remaster erst kürzlich auf der PS4 durchgespielt, das hat echt Spaß gemacht, die kleinen aber feinen Verbesserung taten stellenweise wirklich Wunder.
Ich bin wegen der bonbonbunten Bilder von BG3 bisher auch noch skeptisch. Die reine Masse an Zeug macht noch kein gutes Spiel. Was mir an BG2 auch 2023 noch gefallen hat, war die wirklich dichte Atmosphäre und das gute Pacing. Dass es nun rundenbasiert wird, kann ich jedoch nur begrüßen, die hektischen und konfusen Kämpfe waren nicht so doll.
Ich bin jedenfalls gespannt! Danke für die Reise in die Vergangenheit :)
Ich bin sowieso an Bord bei Baldur's Gate. Super Vertiefung, ich mag diese autobiographischen Bezüge ohnehin, weil Du somit als Journalist und Kritiker sehr nachvollziehbar machst, aus welchem persönlichen Kontext Du Dich jenem Werk näherst. Ich habe BG1 damals nicht lange gespielt und seitdem nie nachgeholt. Mich hatte der Anfang tatsächlich nicht so abgeholt, und so irrte ich nach dem (in meiner Erinnerung) brutalen Anfang irgendwo von Waldstück zu Waldstück ohne Orientierung. Evtl. war ich auch einfach zu jung. Dafür hat mich dann BG2 komplett abgeholt. Ich erinnere mich auch 20 Jahre später noch gut an die Partycharaktere, manche Stadtbereiche in teils wunderschön illustrierter Architektur, den "unbesiegbaren" Kangaxx, die spielerische Freiheit, einigen mächtigen Items und dass ich es tatsächlich in…
Jo… wann kommt der 3. August (werd aber auch erst etwas später anfangen)? Würde jetzt gerne loslegen. Ganz tolle Vertiefung - ich bin sehr gespannt auf deine Einschätzung später im Jahr. An Baldurs Gate 1 erinnere ich mich noch sehr gut… nach dem Einstieg im Kloster war ich damals schon total gefangen.
.. ich verabschiede mich jetzt auch in den Urlaub (Weitgehend ohne Internet). Ein paar schöne Wochen wünsche ich allen :-)
Ok, bin spätestens jetzt angefixt! :D
P.S.: Schöne Vertiefung! ;)