Im Strategiespiel Old World erkennt man im Hintergrund eine vergilbte Karte, die so genannte "Tabula Rogeriana". Der Gelehrte Muhammad al-Idrisi hat sie im 12. Jahrhundert am Hof des Normannenkönigs Roger II. von Sizilien entworfen. Wie kam es dazu, dass Normannen in Unteritalien herrschen? Oder dass sie renommierte arabische Gelehrte beauftragen können? In dieser Vertiefung soll es um ein bemerkenswertes Kapitel des Mittelalters gehen, das oftmals im Schatten von "1066 and All That" untergeht. Es gibt die Vertiefung auch zum Hören.
Im Schatten von Hastings
Mit dem berühmten Sieg Wilhelm des Eroberers bei Hastings im Jahr 1066, der die Unterwerfung Englands einleitete, wird häufig das Ende der Wikingerzeit gleichgesetzt. Die wiederum nahm gemeinhin im Jahr 793 mit dem Angriff auf das Kloster Linidisfarne ihren Anfang. Aber diese Daten dienen lediglich als Orientierung, denn so exakt lassen sich historische Perioden nicht eingrenzen, zumal Überfälle aus Skandinavien schon ein halbes Jahrhundert früher belegt sind. Und gerade der Begriff sowie das Wirken der "Normannen" eignet sich sehr gut, um den schnellen Wandel innerhalb dieser mittelalterlichen Periode darzulegen - um es zu verkürzen: aus "Seeräubern" wurden "Ritter", aus "Häuptlingen" wurden "Lehnsherren", aus "Heiden" wurden "Kreuzfahrer". Nur verbergen sich hinter diesen scheinbar unvereinbaren Begriffen selbst nach Generationen gemeinsame Merkmale - vor allem Mentalitäten ändern sich nur langsam.
Als Roger II. von Sizilien (1095-1154) den Araber al-Idrisi beauftragte, eine Karte der bekannten Welt anzufertigen, galt er als der reichste König seiner Zeit. Er herrschte über ein zentrales Reich im Mittelmeer, das von Süditalien bis Nordafrika nach Tunis reichte. Er war bestens vernetzt mit Königen aus ganz Europa und Lehnsherr in einem Vielvölkerstaat. An seinem Hof verschmolzen westeuropäische, byzantische und orientalische Kultur - Roger soll sogar Arabisch gesprochen haben. Niemand würde ihn heute als "Wikingerkönig" bezeichnen wie etwa einen Sven Gabelbart (960-1014). Und dennoch gibt es Verbindungen in den Norden...
Die nordischen Wurzeln
...genauso wie dieser Sven Haraldsson, König von Dänemark, mehrmals mit einem Heer in England einfiel, eroberten schließlich die so genannten "Normannen" unter Wilhelm die englische Insel. Und sie hießen deshalb so, weil ein legendärer Wikingerfürst namens Rollo das Gebiet um Paris so erfolgreich plünderte, das ihm der fränkische König Karl, in all seiner Einfalt, einen Deal vorschlug: Du beschützt uns vor den heidnischen Wikingern, dafür bekommst du Land an meiner Nordküste. So wurde im Jahr 911 aus der späteren Sagagestalt "Göngu-Hrólfr" nach obligatorischer Taufe ein latinisierter "Robert", der „princeps Normannorum“. Diese scheinbar kleine Belehnung hatte Folgen für die europäische Geschichte.
Aus diesem Gebiet um Rouen entwickelte sich mit dem Herzogtum Normandie in verblüffend kurzer Zeit einer der modernsten Personenverbandstaaten des Mittelalters. Man geht davon aus, dass die vorwiegend aus Dänemark stammenden Wikinger deshalb so schnell, vermutlich innerhalb von zwei Generationen, Sprache und Gebräuche änderten, weil sie meist fränkische Frauen heirateten.
Es gab natürlich auch Konflikte zwischen Franken und Wikingern, aber Letztere übernahmen nach der offiziellen Ansiedlung irgendwann das Altfranzösisch, das sie vor allem mit Wörtern der Seefahrt prägten. So finden sich im "Normannischen" (eine gefährdete romanische Sprache) heute noch altnordische Begriffe für Köder (bète/beita), Möwe (maôve/mávaʀ) oder Insel (houmet/hólmʀ). Die Kinder hießen dann nicht mehr Hrodgar wie in Skandinavien, sondern Roger - beides bedeutet laut der altnordischen Wurzeln übrigens so viel wie "Ruhmreicher Speer". Ob der spätere König von Sizilien das noch wusste?
Söldner, Anführer, Herrscher
Mehr als ein Jahrhundert nach der Belehnung Rollos brachen jedenfalls die ersten Normannen aus Nordfrankreich nach Italien auf. Drei Dinge sind wichtig: Erstens reisten diese Normannen über Land und die Alpenpässe, nicht wie ihre Vorfahren über das Meer. Zweitens gab es keinen Plan mit einer großen Schlacht wie bei Hastings, sondern mehrere Phasen bis zur Gründung eines Reiches, in denen sie erst von Söldnern zu Befehlshabern, dann von Fürsten zu Königen aufstiegen. Drittens trafen sie auf eine von Machtinteressen zersplitterte Region, die zwar offiziell im Einflussbereich des Byzantischen Reiches lag, deren lokale Schwäche und Rivalitäten sie jedoch ausnutzen konnten.
Das Verblüffende: Sie waren dabei stets in der Minderheit, nur in kleinen Verbänden vor Ort, die sich zunächst nicht überregional organisierten. Und nur weil sie als Söldner gern angeheuert wurden, war ihre daraus folgende Herrschaft oder gar ein Königreich wie jenes von Roger II. alles andere als selbstverständlich - ja sogar unwahrscheinlich. Als einige von ihnen im Auftrag des italischen Fürsten Meles zunächst kleine Gefechte gewinnen konnten, wurden sie 1018 bei Canne sogar vernichtend von einem Heer aus Byzanz geschlagen. Angeblich schwärmten die Soldaten der Griechen "wie Bienen aus einem übervollen Korb" - und von den 250 Normannen überlebten laut Überlieferung nur zehn. Wieso konnten sie sich davon erholen?
Der erste normannische Graf
Zum einen gab es immer wieder Zuzug aus der Normandie, zumal man nicht vergessen darf, dass Süditalien auch auf der Route ins Heilige Land lag - rückreisende normannische Pilger waren sogar die ersten, die im Jahr 999 als Söldner dort auftauchen. Als professionelle Berufskrieger konnten sie von den Konflikten zwischen Salerno, Capua, Montecassino, Neapel, Byzanz sowie Tunis profitieren und schließlich im Jahr 1030 die erste eigene Herrschaft gewinnen: der Normanne Rainulf, vermutlich ein Überlebender aus Canne, wurde Fürst von Aversa und heiratete in den lokalen Adel ein. Ab jetzt hatte einer von ihnen Land, Burg - und gewisse Rechte.
Das war vielleicht ein Grundstein für die spätere Eroberung Süditaliens und Siziliens, aber ein recht wackliger. Zur Stabilisierung trug dann vor allem eine dem niederen Adel angehörende Familie aus der Normandie bei: die Hautevilles. Zwölf (!) Söhne konnten in der französischen Heimat natürlich nicht gleichwertig erben, also reisten acht von ihnen 1035 über die Alpen nach Italien. Dort kämpften sie im Auftrag des byzantinischen Kaisers gegen die Araber in Sizilien - dabei erhielt der junge Wilhelm von Hauteville den Beinamen "Eisenarm", weil er den Emir von Syrakus angeblich aus dem Sattel warf.
Diese Erfolge im Kampf sorgten für ein lukratives Image. Apropos: Als die Byzantiner 1038 Messina und 1040 Syrakus von den Sarazenen eroberten, marschierten ebenfalls Nordmänner mit - und zwar in der Warägergarde - so nannnten die Slawen die Wikinger. Kein Geringerer als der spätere norwegische König Harald "der Harte" Sigurdsson (1015 -1066), Gründer von Oslo, kämpfte damals in Sizilien. Ober er sich mit den Normannen, die schon offiziell Altfranzösisch sprachen, noch in altnordischer Sprache hätte unterhalten können? Jedenfalls wollte dieser Harald ebenso wie Wilhelm der neue König von England werden - aber er starb bekanntlich in der Schlacht an der Stamford Bridge gegen die Angelsachsen unter Harald Godwinsson.
Robert Guiskard und der Sieg von Civitate
Bisher waren die Normannen mehr oder weniger Hilfstruppen in Italien, die übrigens auf beiden Seiten einer Schlacht anzutreffen waren - nur dass sie sich zwecks Lösegeld meist verschonten. Der große Vorteil lag in ihrer Anpassungsfähigkeit, ihrer Cleverness und ihrer militärischen Reputation. Aber erst um das Jahr 1042 herum verfolgen sie gemeinsame strategische Pläne, denn sie treffen sich alle mit Rainulf sowie dem langobardischen Fürsten Gaimar. Zusammen teilen sie quasi Süditalien auf, indem der oben genannte Wilhelm zum Grafen von Apulien ernannt wird. Was danach folgt ähnelt - stark verkürzt - einem Dominoeffekt, der vom Zuzug der Normannen Richard und Robert Guiskard (1015 - 1085) aus dem Hause Hauteville beschleunigt wurde. Es sprach sich herum, dass in Italien was zu holen ist!
Aber das meist gnadenlose und ausbeuterische Vorgehen hatte seinen Preis: der Widerstand in der italischen Bevölkerung gegenüber den neuen Herren wuchs stark. Und die Normannen näherten sich den Ländereien der katholischen Kirche. Der Papst, selbst Landesfürst mit Machtinteressen in Italien, verbündete sich mit dem byzantinischen Kaiser, um 1053 gegen die Normannen in den Krieg zu ziehen - eine mächtige Allianz. Doch die Normannen waren clever: Sie verhinderten einen Zusammenschluss der beiden Armeen und stellten den Papst vorher bei Civitate - der wollte natürlich abwarten, bis die byzantinischen Truppen kamen.
Die Normannen schlugen vorher zu: Zwar waren sie auch so in der Minderheit, konnten nur etwas mehr als die Hälfte der 6000 Männer aufbringen, die ihnen gegenüber standen. Diese 3500 waren allerdings keine losen Hilfstruppen: Das waren kriegserprobte Normannen, die sich im Angesicht der Bedrohung unter klarer taktischer Befehlsstruktur vereinten. Sie konnten vorwiegend schwer gepanzerte Reiter gegen die päpstlichen Fußtruppen ins Feld führen, zu denen übrigens auch ein Kontingent von 500 bis 700 Mann aus Schwaben mit "Zweihandschwertern" gehörte, das sich laut einiger Aufzeichnungen wohl tapfer schlug, als die mehrheitlich italienischen Verbündeten schon flohen - wie unterschiedlich diese Schlacht geschildert wird, wird übrigens in diesem Quellenkommentar deutlich. Aus militärischer Sicht gibt es durchaus Parallelen zu Hastings, denn eine eher statisch organisierte Infanterie traf abwartend auf eine mobile Kavallerie, wie man sie auf dem Teppich von Bayeux sehen kann.
Normannisches Königreich bis Tunis
Nach diesem Sieg und der Gefangennahme des Papstes (mit dessen Nachfolgern sie immer wieder in Konflikt gerieten) wurde die normannische Herrschaft in Italien komplett legitimiert. Ab 1061 übernahmen Roger und Robert Guiskard die systematische, jedoch sehr langwierige Eroberung Siziliens: Dabei kam es übrigens sechs Jahre vor Hastings zu einer Invasion über das Meer, die auch den Transport von Pferden verlangte - wobei die Normannen keine Schiffe bauten, wie vor Hastings, sondern wahrscheinlich byzantinische Schiffe und Experten einsetzten, die solche Landemanöver kannten. Über 30 Jahre dauerte der Kampf um die Insel, bis Sizilien 1097 komplett erobert wurde.
In dieser Zeit entstanden Burgen, Klöster sowie Straßen in ganz Süditalien. Unter Roger II. (1095-1154) blühte der Handel, Schwefel wurde abgebaut und Seide produziert. Spätestens als er 1146 das nordafrikanische Tunis eroberte, waren die Normannen auch eine Wirtschafts- und Seemacht im Mittelmeer. Es wird darüber gestritten, welcher Weltanschauung dieser Herrscher folgte, der einen Papst gefangen nahm und sich zum König ernennen ließ, der wohl als einziger christlicher König einen Harem hatte und Arabisch sprach, der als tolerant galt und eine Verfassung nach byzantinischem Vorbild schreiben ließ, in der u.a. die Gleichbehandlung aller Religionen berücksichtigt wird. Wieviel Mythos steckt in dieser Persönlichkeit?
An seinem Hof lebte jedenfalls auch der Gelehrte Muhammad al-Idrisi, der in Cordoba studiert hatte und aus einer adligen Familie kam, die sich auf einen Stammbaum berief, der bis auf den Propheten Muhammad zurückreichte. Für seine berühmte Karte, die in einer Silberplatte eingravierte Tabula Rogeriana, benötigte er sechzehn Jahre der Recherche von 1138 bis 1154. Dabei stützte er sich sowohl auf die mündlichen Aussagen von Seefahrern als auch antike Werke wie jenes des Ptolomäus. Auch in dieser Weltkarte zeigt sich letztlich eine Verschmelzung der Kulturen und Raumvorstellungen, denn die erstmals in sieben Klimazonen unterteilte Welt reichte von Europa und Asien bis in den Norden Afrikas.
Vielleicht eine letzte interessante Notiz: Der Enkel dieses Normannen Roger II. war kein Geringerer als der deutsche Kaiser Friedrich II. (1194 -1250), der übrigens auch König von Sizilien war, der sich ebenfalls mit den Päpsten anlegte und als überaus weltoffen galt - und um den sich nicht weniger Mythen ranken sollten. +++
Literaturhinweise: Die Normannen, Richard Allen Brown, 1984. Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzident, Hubert Houben, 2010. Kirchenreform und Hochmittelalter 1046-1215, Hermann Jakobs, 1994.
(Bilder von oben: Tabula Rogeriana, aus den überlieferten Einzelblättern zusammengefügte, lateinisch transkribierte Gesamtkarte (Konrad Miller, 1926); Roger auf einem in Mileto geprägten Trifollaris (1072-1101); Teppich von Bayeux, Szene 19 (um 1070) gemeinfrei; Robert Guiscard wird von Papst Nikolaus II. zum Herzog gekrönt, (14. Jh.); Roger II.; Abbildung aus dem Liber ad honorem Augusti des Petrus de Ebulo, (1196); gemeinfrei)
Top! Danke!
Sehr schön aufbereiteter Einblick in diesen spannenden Zeitraum der europäischen Geschichte. Gefällt mir sehr gut. Die geschichtlichen Bezüge haben mir schon auf 4P von Dir gut gefallen. Gerne mehr davon! :)
Eine sehr interessante Vertiefung zu einem mir eher unbekannten Teil des Mittelalters. Gerne mehr von solchen Vertiefungen zu historischen Bezügen.
Vielen dank für die tolle Vertiefung. Gab es wirklich schon Bidenhänder um die Zeit? Das kann ich mir kaum vorstellen...
Gehen wir doch an den Anfang zurück und werfen einen Blick auf die Karte selbst, sie ist ja Ausgangspunkt und man möchte dann ja entsprechend würdigen. Wenn ich nicht allzu krumm gucke, ist sie aus unserer heutigen Sehgewohnheit in einer "auf den Kopf gestellten" Ausrichtung, sprich Süden ist oben? Hab mich mal in der Levante bis zum Nil runtergehangelt, da stimmen ja noch die Städtenamen, da musste ich erst mal drehen im Kopf. Oder bin ich zu gaga in der Rübe? Vielen Dank für den launig-illustren Zoom auf ein Mittelalter-Detail. Man fühlt sich wie in einer Hergemöller Vorlesung. Will man nebenbei gleich wieder Crusader King starten.